Frieders Abflug
„Mist, das war nicht die Bremse“, war der letzte Satz, den Frieder in seinem Leben im Diesseits dachte. Dann wurde es still. Er fühlte keinen Schmerz, obwohl sich das Auto mit seinen 120PS gerade durch die Garagenwand geschoben und ein Eisenträger ihm das Genick gebrochen hatte.
Frieder schwebte aufwärts, sah auf das Chaos hinab und war insgeheim froh, dass er seiner Frau Helga keine Rechtfertigung mehr schuldete. Sie wollte schon lange, dass er den Führerschein abgab,
aber er fühlte sich in seinem Auto sicherer als auf seinen Beinen. Gerade jetzt, wo die Goldene Hochzeit bevorstand, kam ihr sein Ableben sicher äußerst ungelegen, aber er ersparte sich nun den
ganzen Rummel, den er sowieso nur ihretwegen und nur widerwillig in Kauf genommen hätte. Das Geld konnte sie jetzt für seine Beerdigung ausgeben und er wusste, sie würde nicht sparen. Schon der
Leute wegen, die ihre neugierigen Nasen in die Trauerfälle steckten wie in ein Stück Sahnebaiser.
Blöd, er hatte kein Testament hinterlassen, in dem er für den Notfall vorgesorgt hätte. Nur in Gesprächen hatte er immer wieder betont, dass er den ganzen Rummel nicht wollte.
Er brauchte keine Trauergesellschaft, keine Kränze und Blumen auf einem Erdhügel. Er mochte sowieso keine abgeschnittenen Blumen, die über kurz oder lang diesen seltsamen morbiden Duft von sich
gaben. Er mochte die pflegeleichten, immer wieder blühenden Kakteen. Aber die würde ihm sicher keiner auf sein Grab setzen.
Er kannte seine Helga. Wenn es schon nicht die Goldene Hochzeit war, dann würde sie dieses Ereignis mit allem Pomp durchziehen und alle, die bei ihrem Jubiläum mit ihnen gefeiert hätten würden
ihn nun gebührend betrauern. Alles auf seine Kosten. Noch ein Schnäpschen, noch ein Gläschen und schon wären sie bei den Episoden und Schwänken aus seinem Leben.
Der Frieder ist tot, aber das Leben geht weiter.
All diese Nichtigkeiten berührten ihn nun nicht mehr. Er war unterwegs, seine wohlverdiente Ruhe zu finden, und die wollte er genießen.
Ihr Frieder hatte sich eine Woche vor ihrem 50jährigen Ehejubiläum davon gemacht. Ein tragischer Unfall mit tödlichem Ausgang und Helga war neben richtig traurig und fassungslos auch richtig
sauer auf ihn. Wie oft hatte sie ihn gewarnt, seine Fahrtüchtigkeit in Frage gestellt, ihn gebeten, lieber mit dem Bus zu fahren, aber Frieder war, was sein Auto betraf, stur. Er führe seit 55
Jahren unfallfrei, da müsse man nicht im Traum darüber nachdenken den „Lappen“ abzugeben. Jetzt war er ihn los, für immer, und sie musste sehen, wie ihr Leben ohne ihn weiterging. In ihrem Alter
war man sich ja darüber im Klaren dass das Leben nicht ewig währt. Aber dass es so schnell und so jäh beendet würde, daran hatte sie in ihrem schlimmsten Albtraum nicht gedacht.
Gerade erst gestern waren sie mit einer beglaubigten Patientenverfügung vom Hausarzt gekommen froh, diese Hürde überwunden zu haben. Auch dazu hatte sie ihren Frieder überreden müssen. Manchmal
musste sie zu drastischen Formulierungen greifen, damit er ihre Argumente verstand. Sie hatte ihn gefragt, ob er den Beatmungsapparat selbst abschalten will, wenn es die Ärzte nicht tun, weil er
und sie das nicht schriftlich festgelegt haben. Sie jedenfalls würde es nicht tun. Da hatte Frieder begonnen, nachzudenken. Jetzt war das alles hinfällig, ebenso wie die Goldene Hochzeit.
Stattdessen stand eine Trauerfeier an, und auch die musste organisiert werden. Frieder, Frieder, was hast du mir da wieder eingebrockt!
Der Notarzt betrat die Wohnküche und seine Fragen drangen nur wie durch eine Nebelwand in ihr Bewusstsein.
Nein, sie braucht kein Beruhigungsmittel, nein, sie kommt zurecht, behauptete sie, dabei zitterte sie am ganzen Körper, und nur das gute Zureden des Arztes brachte sie dazu, sich eine Spritze
setzen zu lassen. Sie legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, das sonst nur bei festlichen Gelegenheiten, im Höchstfall zum Sitzen benutzt werden durfte.
Der junge Mann deckte sie sorgsam mit einer Wolldecke zu und blieb noch eine Weile, bis sie eingeschlafen war. In der Tür stand Hilde, die Nachbarin und bot ihre Hilfe an.
„Bleiben sie einfach hier in der Nähe, damit sie nicht allein ist, wenn sie aufwacht.
„Gibt es Angehörige, die benachrichtigt werden sollten?“ fragte der Arzt.
„Sohn und Tochter“, überlegte Hilde laut, aber die wohnen nicht hier.
„Nun, dann lassen wir Frau Nebelung erst einmal in Ruhe begreifen, was passiert ist, dann wird sie schon die angemessenen Schritte tun. Ich muss weiter. Danke für ihre Hilfe.“
Der Arzt griff nach seinem Koffer und der orangefarbenen Jacke mit dem Schriftzug „Notarzt“ und eilte davon.
Hilde ließ sich in den Sessel fallen. Es ging ziemlich weit hinunter und sie überlegte, wie sie da wieder heraus kommen sollte mit ihrem lädierten Rücken. Mein Gott, so ein Unglück! Die arme
Helga! Aber sie wird es überwinden mit der Zeit. Ich habe das alles auch hinter mir. Als mein Egon gestorben ist, war ich gerade mal 55 Jahre alt.
Eigentlich noch zu jung, um alleine zu bleiben. Aber es hat sich nichts ergeben. In dieser Siedlung schaut jeder auf jeden. Was hätte es für
Getuschel gegeben, wenn ich, Hilde Flessmann, Herrenbesuch bekommen hätte. Naja, ich bin auch allein alt geworden, und die Helga wird das auch schaffen.
Wie lange sie wohl schläft? Vielleicht hole ich mir mein Strickzeug, damit ich nicht so ins Grübeln komme. Kein Radio, kein Fernsehen, da hört man das eigene Herz schlagen. Stille kann unheimlich
sein. Hilde quälte sich aus dem Sessel und holte ihr Strickzeug. Danach ließ sie sich vorsichtshalber auf einem Küchenstuhl nieder. Der kam ihrem Kreuz entgegen, auch wenn es sich ein wenig hart
anfühlte unter dem Allerwertesten.
Hilde strickte Socken. In allen Farben und allen Größen für alle, die sie wollten und nicht wollten. Socken für den Sommer, für den Winter, lang und kurz, bunt und einfarbig, derb und fein. Eine
ganze Truhe mit Sockenwolle stand neben ihrem Sofa. Alle schenkten ihr Wolle, ob zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Sogar zum Frauentag beschenkte man sie mit Wolle anstatt mit Blumen. Was
sollte sie anderes machen, als sie verarbeiten? Ihre Hände bewegten sich völlig mechanisch und über dem Klappern der Nadeln nickte sie ein.
„Was machst du denn hier, Hilde?“ weckte sie Helgas Frage und ganz erschrocken fuhr sie aus dem Schlummer. Das Strickzeug lag am Boden und sie hing in gefährlicher Schieflage auf dem Stuhl.
„Ich sollte bei dir bleiben, bis du aufwachst. Der Notarzt hat mich darum gebeten, Helga. Wie geht es dir?“
„Wie soll es mir gehen, Hilde? Ich bin völlig neben mir. Mein armer Frieder. Solch ein Ende habe ich ihm nicht gewünscht.“ Dicke Tränen rannen über Helgas Wangen.
„Sei froh, dass er so schnell weg war, andere leiden jahrelang und alle Angehörigen leiden mit.“ Hildes Kommentar war so unsensibel wie direkt. „ So war es kurz und schmerzlos. Wenn ich an meinen
Egon denke.....“ Ein paar Tränen zerdrückte Hilde jetzt auch.
„Wie kannst du so herzlos sein?“ beschwerte sich Helga unter Tränen. Solch einen Schock wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Tot, von jetzt auf gleich, das ist unfassbar, und ich weiß nicht,
wie ich damit umgehen soll.“
„Du musst das Nächstliegende tun, Helga, nämlich deine Kinder anrufen. Die müssen doch auch Bescheid wissen.“
„O Gott, o Gott, meine armen Kinder“, jammerte Helga. Aber sie griff zum Telefon und wählte.
„Anrufbeantworter, kommentierte sie für Hilde. Um diese Zeit sind sie alle an der Arbeit und da soll ich nur im Notfall anrufen.“
„Und, ist es kein Notfall, wenn der Vater tot ist?“
„Ja, natürlich.“ Helga blätterte zittrig in ihrem Telefonbuch. Schließlich hatte sie die Nummer gefunden und tippte die Zahlen ein.
„Mutter, ist etwas passiert?“ fragte Ulrike, Helgas Tochter und Helga fand keine Worte, ihrer Tochter das Drama zu beschreiben, das sich am Morgen abgespielt hatte. Hilde nahm ihr den Hörer aus
der Hand.
„Lass mich mal machen! Uli, hier spricht Hilde, die Nachbarin. Du weißt doch, wer ich bin?“
„Ja natürlich weiß ich das, aber was ist denn los bei euch? Ich habe keine Zeit für Späßchen, ich bin an der Arbeit und hier sieht man Privatgespräche nur sehr ungern.“
„Das hat deine Mutter auch schon gesagt. Nur im Notfall. Aber den haben wir hier. Dein Vater ist tot.“
Zunächst herrschte Stille, dann schrie Ulrike: „Was, wieso, warum, wann ist das passiert? Gestern ging es ihm doch noch gut. Mama, sag was!“
Aber Helga schluchzte nur und sagte nichts.
„Uli, sag deinem Bruder Bescheid und kommt so schnell ihr könnt her. Eure Mutter braucht euch.“ Hilde legte den Hörer auf. Helga war froh, dass Hilde so eine tatkräftige Person war. Sie
jedenfalls war völlig am Boden zerstört.
1. Frieder meldet sich zu Wort
„Jetzt lass dich nicht so hängen“, hörte sie Frieders Stimme in ihrem Kopf.
Ganz deutlich und ziemlich ungehalten klang der Satz. Helga zuckte zusammen und drehte sich um. Aber außer Hilde war niemand da. Habe ich jetzt schon Halluzinationen, dachte Helga entsetzt. Aber
nach dem nächsten Atemzug hörte sie ihn sagen: „Helga, ich bin doch nicht aus der Welt, was heulst du herum? Reiß dich zusammen und untersteh dich, die Kinder verrückt zu machen. Mir geht’s gut
hier, mir tut nichts weh und das sollte dir fürs Erste genügen.“
Das kommt von der blöden Beruhigungsspritze! Wer weiß, was der Doktor mir gegeben hat. Ich spinne doch nicht. Helga legte sich auf das Sofa zurück und schloss die Augen.
„Hilde, du kannst ruhig rüber gehen, ich schlafe noch ein Stündchen. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich an. Ich glaube, ich brauch das jetzt.“
„Wenn du meinst. Ich müsste auf den Friedhof zum Gießen gehen. In einer Stunde bin ich wieder da. Neue Pflanzen, du weißt ja, wenn ich die nicht wässre, dann verdorren sie und das Geld ist
futsch. Na, bald können wir zusammen gehen und unsere Gräber pflegen.“
„Soweit kommt`s noch“, knurrte Frieder in Helgas Kopf und wieder zuckte Helga zusammen als hätte sie einen Stromschlag bekommen.
„Was zuckst du so? Geht es dir schlechter? Soll ich nicht lieber doch bleiben?“ Hilde legte ihr Strickzeug wieder auf den Stuhl.
„Nein, nein, geh du ruhig, mich zwickt seit Tagen der Ischias und jede falsche Bewegung tut weh.“
Hilde kramte nach ihrem Schlüssel, griff nach dem Strickstrumpf und verließ über die Terrasse Helgas Häuschen.
Endlich allein. Helga musste nachdenken. Die nächsten Schritte, der nächste Tag. Es würden viele Dinge zu erledigen sein. Frieder hatte Recht. Sie
musste sich wirklich zusammenreißen.
Vor allen Dingen musste sie den Gästen absagen, die zur Goldenen Hochzeit kommen wollten. Alle Pläne mit Familie, Freunden und Verwandten ein großes Fest zu feiern, waren mit Frieder gestorben.
Und was sollte sie jetzt mit dem großen Topf Kartoffelgulasch machen, den sich Frieder zum Mittagessen gewünscht hatte? Helga schüttelte den Kopf über sich selbst. Wie konnte sie jetzt an etwas
so Nebensächliches wie an Kartoffelgulasch denken!
Frieders Wohlergehen hatte immer den ersten Platz in ihrem Leben eingenommen. Worum sollte sie sich jetzt kümmern?
„Kümmere dich mal um dich“, hörte sie ihren Frieder sagen, aber jetzt war sie schon nicht mehr so entsetzt. Das hätte er auch gesagt, wenn er noch hier gewesen wäre.
Helga ging mit sich ins Gericht. Ich muss die Übersicht behalten. Was ist das Wichtigste im Moment? Ich muss mein Kartoffelgulasch in kleinen
Portionen einfrieren, und dann muss ich mir überlegen, wie ich den Kindern erkläre, was heute passiert ist.
„Du sagst einfach, der Vater hat sich vergaloppiert“, hörte sie Frieders Stimme in ihrem Kopf. Seinen Humor hatte sie nie so richtig verstanden, und sie sah ihn im Geist grinsen.
Das ging nun wirklich zu weit. Die Situation war ernst genug.
Helga rief sich zur Ordnung. Ordnung sei das halbe Leben hatte die Mutter ihr eingebläut. Man verlässt die Wohnung nicht unaufgeräumt, die Küche nicht, ohne den Abwasch erledigt zu haben, man
bügelt die Wäsche, wenn sie trocken ist, man repariert sofort, was kaputt ist, und man putzt die Fenster mindestens jede zweite Woche. Ach ja, die Fenster sind auch dran, und bevor die Kinder
kommen müssen sie noch einmal abgerieben werden.
“Spinnst du jetzt total, Helga?“ Die bekannte Stimme in ihrem Kopf meldete sich zu Wort. Und voller Sarkasmus fügte sie hinzu:
„Jetzt, wo ich euch so unerwartet verlassen habe, solltest du um mich weinen anstatt die Fenster zu putzen.“
Helga postierte sich vor ihrem Hochzeitsbild, das im Wohnzimmer neben der eichenen Vitrine hing.
„Frieder, lass mich machen! Ich brauch das jetzt. Du hast immer gesagt, ich soll keine Krokodilstränen zerquetschen, wenn jemand in der Nachbarschaft gestorben ist.“
„Ich bin auch nicht die Nachbarschaft, ich bin dein Mann. Da kannst du schon mal eine Ausnahme machen.“
„Und, was denkst du? Soll ich jetzt darauf warten, dass andere die Zügel in die Hand nehmen? Ich muss so viele Dinge bedenken und das kann ich nur, wenn ich mich ablenke und etwas tue, was nur
meine Hände beschäftigt.“
„Was willst du denn tun? Ich habe immer gesagt, dass ich kein Brimborium haben will, wenn ich mal hinüber bin. Du solltest das respektieren.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage, Frieder! Wenn du mir schon die Goldene Hochzeit verdirbst, dann gibt es wenigstens eine angemessene Trauerfeier mit allen den Gästen, die auch zur Goldenen
Hochzeit gekommen wären.“
„Helga, das verbiete ich dir!“ Frieders Stimme klang empört und scharf. „Meinst du nicht, dass es gescheiter wäre, das Geld zu sparen? Du wirst es brauchen, wenn ich nicht mehr da bin.“
„Das Geld ist schon verplant, und du wirst mich nicht davon abhalten zu tun, was du nicht mehr verhindern kannst. Immerhin hast du dich auf eine Wolke verzogen, knabberst Manna und singst
Halleluja wie Arthur der Engel.“
Das Telefon klingelte und Helga ließ ihren Frieder im Wohnzimmer zurück.
Jens-Uwe, der Erstgeborene, war in der Leitung und verlangte von seiner Mutter Aufklärung.
Sie berichtete in kurzen Worten, was am Morgen passiert war und ihr Sohn kommentierte das Geschehen mit den Worten „Das musste ja mal passieren, es war nur eine Frage der Zeit. Wir haben es dir
so oft gesagt, dass der Papa nicht mehr Auto fahren sollte.“
„Du willst doch nicht sagen, dass ich schuld bin. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber dein Vater hatte immer seinen eigenen Kopf. Wenn ich etwas verboten hätte, dann wäre garantiert das
Gegenteil eingetreten.“
„Mutter, natürlich bist du nicht schuld“, versuchte der Sohn zu besänftigen. „Brauchst du Hilfe? Sollen wir kommen? Ich habe nur noch einen großen Auftrag, den ich unter Dach und Fach bringen
muss. Ein-zwei Tage, dann bin ich bei Dir und übernehme. Ist das für dich in Ordnung?“
„Ja, ja, mach nur, mein Junge, vielleicht kommt Ulrike und unterstützt mich ein bisschen. Ansonsten habe ich auch noch Hilde. Die hat mir angeboten zu helfen. Als ihr Egon gestorben war, stand
ich ihr auch zur Seite. Eine Hand wäscht die andere, das kennst du ja und in der Nachbarschaft sowieso. Bringst du Marie-Christin mit? Ich muss die Zimmer für euch richten.“
„Mach dir keine Umstände, Mutter, wir können auch im Hotel schlafen.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, widersprach Helga. „Dein Zimmer ist noch immer so, wie du es verlassen hast.“
„Eben“, murmelte Jens-Uwe kaum hörbar.
„Hast du noch etwas gesagt?“ Helga hatte geglaubt, „eben“ gehört zu haben, aber ihr Sohn verneinte. „Dann rufst du noch einmal an, bevor ihr kommt?“
„Ja, Mutter und – nimm eine Schlaftablette heute Abend, damit du zur Ruhe kommst. Hat der Notarzt dir etwas da gelassen?“
„Nein, er hat mir eine Spritze gegeben. Die würde über den ersten Schock hinweghelfen, meinte er. Ansonsten sollte man keine Medikamente nehmen, man brauche einen wachen Verstand, um trauern zu
können. Vielleicht hat er ja Recht. Ich komme schon klar, mein Junge, mach dir keine Sorgen und grüß deine Frau!“
„Mach ich, gute Nacht und bis dann!“
Helga ging ins Wohnzimmer zurück.
„Typisch“, knurrte Frieder. Wenn man sie mal braucht, haben sie keine Zeit. Aber hätten wir keine, wenn sie etwas wollen, wären sie empört.“
„Sie haben einen Beruf. Der fordert alles von ihnen. Da muss man Rücksicht nehmen.“
„Hatten wir keinen Beruf? Wir hatten auch noch Kinder und Eltern, um die wir uns gekümmert haben. Die haben heutzutage nicht mal Kinder, weil es zu unbequem ist und keiner Verantwortung
übernehmen will. Was ist das bloß für eine Generation, die wir da herangezogen haben?“ Frieders Stimme verstummte.
Helga strich sacht über seine Wange auf dem Hochzeitsfoto, lächelte ihm traurig zu und ging in die Küche, Kartoffelgulasch einfrieren.
2. Der nächste Tag
Mit dem nächsten Morgen brach das Geschehen mit aller Macht über sie herein. Sie hatte nicht gedacht, schlafen zu können.
Als sie am gestrigen Abend ihr Schlafzimmer betrat und das leere Bett neben dem ihren sah war es um ihre Fassung geschehen. Wie konnte es sein, dass Frieder nicht mehr neben ihr liegen, sein
leises Schnarchen nicht mehr ihren Schlaf stören und sein Guten Morgen – Gute Nachtgebrummel sie nicht mehr aus und in den Tag begleiten würde?
In diesem Zimmer würde sie nie wieder ein Auge zumachen können. Deshalb hatte sie ihr Bett genommen und sich auf der Couch eingerichtet.
Jetzt war es Morgen und sie hatte geschlafen. Unvorstellbar, dass man nach einem solch dramatischen Ereignis überhaupt schlafen konnte. Fast schämte sie sich. Kein Wecker hatte geklingelt, kein
Frieder Frühstück angemahnt. Sie konnte aufstehen wenn sie es wollte, oder liegenbleiben. Keiner würde danach fragen.
Aber sie musste in die Gänge kommen. Es waren Wege zu gehen, die ihr keiner abnehmen konnte.
Als Frau in den Siebzigern war ihr Kleiderschrank nicht unbedingt mit dunklen Kleidungsstücken überfüllt, wie das bei ihrer Mutter gewesen war. Heute war man auch mit siebzig noch modebewusst.
Was sollte sie, dem Anlass entsprechend, herausnehmen? Eine schwarze Hose hatte sie, schwarze Schuhe auch, aber keine schwarze Bluse oder einen schwarzen Pullover. Sie musste sich etwas zum
Anziehen kaufen. Das schöne Kostüm, das für die Goldene Hochzeit gedacht war, kam nicht in Frage, es war silbergrau.
„Passt doch. Ich kann schwarze Klamotten sowieso nicht leiden“, schlich sich Frieder in ihre Gedanken.
„Hat dich jemand gefragt?“ erwiderte Helga gereizt. „Frag mal die Leute, was die leiden können, wenn ich im silbergrauen Kostüm mit tomatenroter Bluse zu deiner Beerdigung erscheine!“
„Du brauchst ja nicht hinzugehen, ich will diese Massenveranstaltung vor neugierigen Zuschauern nicht haben.
Die wenigsten Leute kommen um deinet- oder meinetwillen, Helga, das kannst du mir glauben. Die wollen dich heulen sehen und dann mit den Nachbarn diskutieren, wie sehr du gelitten hast an meinem
plötzlichen Ableben.“
„Frieder, halt den Mund, das muss ich jetzt alleine erledigen und zwar in meinem Sinn und nicht mehr in deinem.“
Helga griff sich eine weiße Bluse und einen dunklen Blazer. So konnte sie gehen. Das Stammbuch, Frieders Ausweis, ihre Handtasche, ein Päckchen Tempotaschentücher, Schlüssel, Sonnenbrille, zählte
sie auf. Alles dabei.
Frühstücken konnte sie nicht, der Hals war ihr wie zugeschnürt. Aber sie musste zum Standesamt und zum Beerdigungsinstitut. Die Visitenkarte! Wohin hatte sie die gestern gelegt, nachdem die
Männer Frieder eingeladen hatten?
Helga machte noch einmal kehrt und fand die Karte auf der Konsole. Da hatte sie der Bestatter abgelegt. Ein Blick auf die Uhr – der Bus müsste in
fünf Minuten fahren. Auch etwas ungewohntes, Bus fahren. Frieder hatte immer das Auto parat gehabt, ob zum einkaufen oder um einfach mal nur so in der Stadt unterwegs zu sein.
Aber das Auto war hin und Frieder nicht weniger. Blieb also nur der Bus.
„Sieh dich mal um, Helga!“
„Frieder, lass mich jetzt in Ruhe, ich warte auf den Bus.“
„Das sehe ich, aber siehst du auch, dass sich niemand neben dich stellt oder dir ein tröstendes Wort sagt? So sind die Leute, ich habe es immer gewusst. Solange alles in Ordnung ist triefen sie
vor falscher Freundlichkeit. Jetzt fehlen ihnen die Worte. Präg dir die Gesichter ein, das muss man sich merken.“
„Die Leute sind mit Tod und Trauer überfordert. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, deshalb stehen sie abseits. Mir würde es ähnlich gehen.“
„Dass du immer alle Welt in Schutz nehmen musst“, knurrte er.
Der Bus kam und Helga stieg ein.
Der Vormittag wurde lang. Überall musste sie warten und überall druckste man mit den Beileidsbekundungen herum. Professionell wurde es im Bestattungsinstitut. Hier spürte man die tägliche
Routine. Fast meinte Helga, es zu genießen, dass man ihr die Entscheidungen abnahm, die Fragen gezielt kamen und nur mit ja oder nein zu beantworten waren. Erst als es an die Auswahl der Urne
ging, meldete sich Frieder wieder zu Wort.
„Die grüne, Helga, ich will die grüne! Die, mit dem kleinen vergoldetet Fuß und dem goldenen Knopf auf dem Deckel, die ist am schönsten.“ „Ich nehme
die schlichte schwarze“, entschied sich Helga, aber Frieders lautes Protestgeschrei in ihrem Kopf ließ sie die Hände an die Schläfen drücken.
„Ist ihnen nicht wohl? Möchten sie sich setzten?“ Die Angestellte des Instituts griff fürsorglich nach Helgas Ellenbogen.
„Nein, nein, geht schon wieder“, murmelte sie leise und deutete auf die grüne Urne mit vergoldetem Fuß und Deckelknopf.
„Ich habe es mir anders überlegt, ich nehme diese.“
„Warum nicht gleich so? Immer müssen wir erst streiten, bevor du einsiehst, dass ich Recht habe.“ Frieders Stimme triefte vor Zufriedenheit. Bei der Frage nach den Kosten änderte sich seine
Stimmung ganz schnell wieder.
„Zu teuer, Helga, nimm doch lieber die schlichte.“
„Frieder, bei aller Pietät, jetzt reicht es mir.“ Helga kochte vor Zorn.
„Ich gehe jetzt zu unserem Hausarzt und frage, was mir der Notarzt gespritzt hat. Es ist doch nicht normal, dass ich seitdem deine Stimme höre.
Vielleicht bin ich schon reif für die Psychiatrie nach allem, was du mir angetan hast in den letzten Tagen.“
Frieder schwieg erst einmal und Helga besprach alle notwendigen Formalitäten. Über den Tag der Urnenbeisetzung würde man sich noch ins Benehmen setzten. Eine Trauerfeier mit Sarg wollte Helga
dann doch nicht. Da müssten die Kinder ja zweimal kommen, und das wollte sie ihnen nicht zumuten.
Den Weg zum Hausarzt sparte sie sich fürs Erste. Hunger verspürte sie auch keinen. Eine Tasse Kaffee würde ausreichen. Sie könnte sich ein Kaffeestückchen in der kleinen Bäckerei gegenüber der
Bushaltestelle kaufen und dann ein Stündchen ruhen mit Kopfhörern und einem Hörbuch, damit die kreisenden Gedanken zur Ruhe kämen, und vielleicht würde dann auch Frieders Stimme in ihrem Kopf
verstummen.
3. Die Annonce
Auch die nächsten Tage brachten ihr nicht die ersehnte Ruhe. Vielmehr verfiel sie in eine ungekannte Rastlosigkeit. Überall suchte und räumte sie, ohne wirklich etwas zuwege zu bringen.
Hilde, die fürsorgliche Nachbarin, erschien jeden Nachmittag, ihr Strickzeug im Gepäck um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Einerseits fand sie das rührend, andererseits wäre sie lieber
allein geblieben. Die Höflichkeit ließ es nicht zu, sie weg zu schicken.
So saßen sie also zusammen in Helgas Küche, tranken Kaffee, aßen eine kleine Süßigkeit und während Hildes Stricknadeln klapperten, klapperte auch ihr Mundwerk, das sich nach dem neuesten Stand
der Dinge erkundigte. „Bist du schon alle Wege gegangen? Hast du schon einen Grabplatz ausgesucht, hast du schon ein Lokal gefunden für den Leichenschmaus? Was willst du den Gästen anbieten? Wie
viele werden kommen? Was ist mit der Annonce in der Zeitung?“
Das war die letzte Frage und Helga fiel siedend heiß ein, dass sie daran noch gar nicht gedacht hatte. Eine Annonce, richtig, die musste ja auch sein. „Aber, Hilde, wer kennt uns schon in der
Stadt?“ überlegte Helga.“ Da ist eine Anzeige vielleicht gar nicht nötig.
„Helga, das hat dein Frieder aber nicht verdient, dass du an einer Annonce sparst. Sicher gibt es Leute, die es interessiert, wer gestorben ist. Ich lese die Anzeigen in der Zeitung immer als
erstes, wenn ich sie morgens aus dem Briefkasten hole.“ Ihr vorwurfsvoller Blick über den Rand der Brille strafte Helga deutlich ab.
„Das kann ich mir denken!“ Frieder war wieder da, und er hatte auch seinen Senf dazu zu geben. „Solche wie Hilde brauchen das wie andere ihr Frühstücksbrötchen. Ohne die Annoncen ist das, als
hätte man ihnen den Honig vom Brot genommen.“
„Frieder! Lass sie, jeder braucht das, was für ihn richtig ist, Hilde braucht eben genau das“, wies ihn Helga zurecht.
„Das kann ich mir schon denken. Frag sie mal, was sie da reinschreiben würde. Ich hab schon so eine Ahnung, Kitsch hoch drei und alles auf die Tränendrüsen.“
„Hilde, du bist doch da Expertin.“ Helga nahm Frieders Einwand auf. „Was schreibt man denn heutzutage in eine Traueranzeige?“
„Wart mal, ich hol die Zeitung von heute, da kannst du dir ein Bild machen. Aber ich denke: Viel zu früh und unerwartet hat uns mein über alles geliebter Mann, unser lieber Vater usw. nach einem
schrecklichen Unfall in tiefer Trauer zurückgelassen.“ Dann die Namen, den Tag der Trauerfeier und :Von Beileidsbekundungen bitten wir Abstand zu nehmen, eine Spende für das örtliche Tierheim
wäre dem geliebten Verstorbenen ein Anliegen gewesen.“
„Die hat sie doch nicht mehr alle“, knurrte Frieder. „Das kommt überhaupt nicht in frage! So ein Sch! Frieder sprach das Wort nicht zu Ende. Aber das geht zu weit. Und dann auch noch eine Spende
für den Tierschutz! Hunde stinken und gegen Katzen bin ich allergisch. Das machst du doch nicht, oder?“ Seine Stimme klang fast flehend.
„Kommt überhaupt nicht in die Tüte, Hilde. Du weißt, Frieder hält nichts von solchen Sachen, und Tiere waren nie sein Hobby. Dann eher für den Tennisclub. Er ist da sehr pragmatisch.“
„Hielt, Helga, hielt und war! Der Frieder ist nicht mehr auf Gottes weiter Welt unterwegs, und du bist sein Sprachrohr vor den Menschen.“
„Eben, und deshalb wird es, wenn überhaupt, eine ganz schlichte Anzeige geben. Frieders Namen, Datum und meinen Namen stellvertretend für alle
anderen. Über Spenden muss ich mit den Kindern reden.“
Hilde klimperte beleidigt mit ihren Stricknadeln und meinte: “Wie du meinst, aber du wirst sehen, die Leute tuscheln und bereden dich.“
„Sollen sie, mich stört das nicht, und in Frieders Sinn ist es allemal.“
Gut so, Helga, gib´s der Tratschtante!“
„Ruhe, Frieder, sie meint es gut.“
„Ja, ja, du immer mit deinem Glauben an das Gute, du wirst auch noch deine Erfahrungen machen.“
Hilde packte ihr Strickzeug zusammen und murmelte etwas von Friedhof und gießen müssen, versprach aber am nächsten Tag wiederzukommen.
„Endlich allein“, seufzte Helga. Hildes Anwesenheit war ihr manchmal einfach zu viel, aber sie wollte sie auch nicht mit abweisenden Worten kränken. Sie war ihre Nachbarin seit dreißig Jahren,
und sie hatten sich immer gut vertragen, was ja nicht so ganz selbstverständlich ist. Manchmal sind Nachbarn anstrengend und das wurde Helga jetzt gerade bewusst. Sie brauchte niemanden, der für
sie dachte, sie brauchte Ruhe.
In der Zeitung schaute sie nach den Annoncen. Alles nicht ihr Geschmack. Sie wollte es individuell. Kein Kreuz, kein aufgeschlagenes Buch, kein Sonnenuntergang, kein Foto, kein tiefsinniger
Spruch. Aber was dann? Ich denke, ich muss Jens-Uwe anrufen. Ein Mann hat bestimmt die richtigen Ideen. Helgas Blick wanderte auf das Zifferblatt der
Wohnzimmeruhr. 17 Uhr, da war er noch nicht zuhause. Etwas später vielleicht. Sie würde sich erst einmal selbst einen Entwurf aussuchen. Sicher hatte Frieder einen Kommentar dazu, der ihr helfen
könnte.
Sie nahm einen großen Schreibblock und einen Filzstift und schrieb schon mal seinen Namen in die Mitte
Frieder Nebelung
„Ich heiße Friedrich, Helga!“
„Ach, bist du auch schon wieder da?“
„Wenn es dir nicht recht ist, gehe ich wieder!“
„Nein, nein, bleib da! Wenn du schon in alles reinredest, kannst du auch helfen.“
„Ich brauche keine Annonce, das habe ich doch oft genug gesagt.“
„Hast du, aber es wird einfach erwartet, dass man den Tod eines lieben Angehörigen bekannt macht.“
„Mir wäre es am liebsten wenn du den alten Franke bestellst.
Weißt du, den Nachtwächter und Ausrufer, der immer beim Stadtfest auftritt mit Uniform Glocke und Laterne. Dem schreibst Du ein Pergament und stellst ihn auf den Marktplatz. Da kann er dann
ausrufen:
Bekanntmachung!
In den Vormittagsstunden des Punkt, Punkt, Punkt kam unser lieber Frieder, nein, Friedrich Nebelung, geschätzter Einwohner dieses Marktfleckens, Angehöriger des Tennisclubs „Blau- weiß“ ,heiß
geliebter Ehemann von Helga Nebelung, Vater von....... blablabla“
„Frieder, hör auf!“ Helga wurde laut. „Du nimmst mich nicht ernst! Immerhin stehe ich jetzt ganz allein da mit dem Schlammassel, den du mir zurück gelassen hast und machst dich auch noch über
mich lustig.“
„Ich mach mich nicht lustig, Helga. Lass doch das ganze Brimborium weg. Lass die Kinder wo sie sind, die Nachbarn und die Neugierigen auch. Setz dich in deinen Sessel und schau mich an. Wir haben
genug Gesprächsstoff.“
„Das hätten wir, aber ich lebe im Hier und Jetzt und was kannst du mir von deinem Aufenthaltsort erzählen?“
„Unterliegt der Geheimhaltung. Da könnte ja jeder kommen und sich interessieren, wie es im Jenseits aussieht. Am Ende kommen sie noch freiwillig. Nur weil es hier „alles inklusiv“ gibt. Da
brauchst du keine Kreuzfahrt mehr und keinen Urlaub in der Türkei. Nur schade, dass ich hier allein bin und niemanden kenne. Ich hatte ja gedacht, ich finde einen von meinen verstorbenen
Jugendfreunden hier oben, dann wäre es sicher lustiger.“
„Oder eine von deinen verflossenen Liebschaften!“
„Helga, lass deine Eifersucht! Ich habe keine verflossenen Liebschaften und hier oben schon gar nicht! Hier ist Liebe ein Allgemeingut.“
„Ist man in der Ewigkeit eigentlich alterslos?“
„Woher du immer deine Weisheiten hast!“
„Aus Büchern, alles aus Büchern, und was in meinen Büchern steht, ist wissenschaftlich erwiesen.“
„So, so, wissenschaftlich erwiesen! Dann ist bestimmt einer von hier zurückgekommen. Ich weiß nur von Arthur dem Engel, der die Bayerische Staatskanzlei reformieren sollte.“
„Frieder, dass du mich nie ernst nehmen kannst!“
„Helga, hast du Besuch, oder mit wem redest du?“
„Hilde, schon wieder zurück vom Friedhof?“„
Ich rede mit niemandem, ich hatte das Radio an. Da lief ein Hörspiel.“
„Und warum machst du es aus, wenn ich komme? Übrigens - in der Trauerzeit hört man kein Radio und sieht auch nicht fern!“
„Warum nicht?“„Weil das unschicklich ist und pietätlos!“
„ Wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert, Hilde! Die Stille rundum macht mich krank und ein wenig Ablenkung tut der Seele gut.“
“Du kannst dich doch mit mir unterhalten. Was glaubst du, warum ich mich so mit dem Gießen beeilt habe?“
Helga verdrehte die Augen. „Hilde, sei mir nicht böse, aber ich möchte allein sein. Wenn du da bist dreht sich alles um Frieders Tod, und es wühlt mich auf, anstatt mich zu beruhigen.“
Beleidigt verzog Hilde den Mund. „Das hat man nun davon, wenn man sich aufopfert und selbstlos Nachbarschaftshilfe leistet.
„Versteh mich doch nicht falsch, ich bin dir dankbar für Hilfe und Anwesenheit, aber ich brauch jetzt Zeit für mich.“
Hildes Aldi Tüte mit der Strickwolle raschelte unwillig bei ihrem Abgang durch die Terrassentür.
„Jetzt hast du es ihr aber gegeben! Das war schon lange mal fällig. Immer dieses geistlose Geschwätz!“ Frieder kicherte zufrieden und Helga schwieg.
„Redest du nicht mehr mit mir?“
„Ich wollte meine Ruhe haben, und das gilt auch für dich. Lass mich für zwei Stunden nachdenken, dann kannst du wieder mit mir reden.“
„Frauen und ihre Launen! Vor mir will sie ihre Ruhe haben, und der Nachbarin erzählt sie, die Stille mache sie krank, sie bräuchte etwas Ablenkung.“
4. Frieder macht es sich gemütlich
Frieders Stimme verschwand aus Helgas Kopf und sie wandte sich wieder dem Entwurf der Todesanzeige zu. So schlicht gefiel es ihr am besten. Wenn das den Kindern auch Recht war, dann würde sie
diesen Entwurf morgen in der örtlichen Tagespresse in Auftrag geben.
Bis zum Anruf bei den Kindern blieb ihr noch eine Stunde und etwas zu Abend essen müsste sie auch. Aber allein schmeckte es ihr nicht. Sie mochte nicht allein in der Küche am Tisch sitzen.
Deshalb belegte sie sich ein Brot, goss sich ein Glas Rotwein ein und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Das hatte sie noch nie gemacht. Um 20 Uhr zur Tagesschau wurde der Fernseher für
gewöhnlich eingeschaltet, und dann hatte man sich für einen Film oder ein Quiz entschieden, danach war der Fernsehabend beendet und man ging schlafen, bzw. lesen, denn Helga konnte nicht
einschlafen ohne ihre Bücher.
Als sie die Tür öffnete, schrie sie laut auf. Vor Schreck fiel ihr der Teller mit dem Abendessen herunter. Das Glas jedoch hielt sie krampfhaft fest.
Im Sessel vor dem Fernseher sah sie Frieder sitzen. Einen Augenblick lang war sein Bild ganz real. Dann verschwand es, und der Sessel war verwaist wie an den Tagen davor auch.
Jetzt ist es soweit, dachte Helga. Jetzt redet er nicht nur mit mir, jetzt spukt er auch noch durchs Haus. Entweder ich brauche einen Arzt oder einen Exorzisten. Das hält doch keiner aus. Helgas Hände zitterten. Vorsichtig stellte sie das Rotweinglas auf dem Couchtisch ab.
„Paranormale Phänomene, Helga, hast du noch nie darüber gelesen? Du liest doch sonst alle möglichen Bücher über Esoterik und solchen Unsinn.“
„Frieder, ich glaube, ich bin verrückt geworden. Das, was hier vor sich geht, kann ich niemandem erzählen. Nicht einmal den Kindern. Die lassen mich einweisen.“
„Du brauchst es doch keinem zu erzählen. Ich bin halt noch ein Weilchen bei dir, da kannst du dich besser an meine Abwesenheit gewöhnen. Von Zeit zu Zeit kannst du mich um Rat fragen, wenn du
Hilfe brauchst, und die brauchst du ganz bestimmt, wie du siehst.“
„Sag jetzt nicht, du machst das mit Fleiß, um mich zu kontrollieren oder zu ärgern.“
„Nie im Leben bzw. im Tode käme ich auf solch eine verdrehte Idee, Helga.“
„Das kann glauben, wer dich nicht kennt, Frieder. Ich muss jetzt mit dem Jungen reden. Du kannst ja bleiben, aber rede mir nicht dazwischen, wenn ich bitten darf.“
„Du darfst!“
Als das Telefon klingelte fuhr Helga zusammen.
War es schon so spät? Fast 20 Uhr, das muss Jens-Uwe sein.
„Na, Mutter, wie geht es dir?“ wollte er wissen.
„Es geht, macht euch nur keine Sorgen um mich, ich komm schon zurecht.“
„Gut zu wissen“, meinte er. „Mir reicht der Stress an der Arbeit, den ich Tag für Tag verkraften muss. Hast du schon einen Termin für die Beisetzung? Ich muss planen, damit ich frei bekomme.“
„Ich dachte bei einem Trauerfall in der Familie ist das kein Problem.“
Helga hatte so etwas gehört.
„Das stimmt schon, aber du weißt ja wie die Chefs ticken. Für familiäre Dinge haben die kein oder nur wenig Verständnis.“
„Das finde ich wenig sozial, aber vorerst habe ich noch keinen Termin, und ich habe auch noch keine Annonce aufgegeben. Dazu hätte ich gern eure Vorstellungen gehört. Hast du mit deiner Schwester
schon mal gesprochen?“
„Hab ich nicht, aber ich dachte, da gibt es doch Standardvorlagen, aus denen man sich etwas Passendes raussuchen kann.“
„Standard wollte ich für euren Vater eigentlich nicht. Etwas ganz Schlichtes, ohne viel Drumherum. So, wie Papa eben war, aber mir fällt nicht das Richtige ein. Ich dachte an den Namen, das Jahr
und meinen Namen für uns alle.“
„Ganz so schlicht muss es ja dann doch nicht sein. Ich würde schon gern unsere Namen drunter stehen haben und ich denke, Uli und Hanno wollen das auch. Vielleicht findest du noch einen
klassischen Trauerspruch, der gut passt für darüber. Alles andere kannst du so machen, wie du denkst.“
„Dann bin ich jetzt so schlau wie zuvor. Ich dachte, Du hättest eine bessere Idee als ich.“
„Kannst ja noch mal mit Uli reden. Die hat auch immer gute Einfälle. – Mutter ich muss! Marie-Christin wartet. Bis bald! Und- melde dich, wenn du einen Termin hast! Schlaf gut, tschüss!“
Keine Zeit, immer in Eile, so sind sie, dachte Helga bevor sie bei ihrer Tochter anklingelte. Aber da meldete sich, wie meistens, der Anrufbeantworter.
„Ulrike, hier ist Mama“, stotterte sie. Ich habe gerade mit deinem Bruder gesprochen wegen der Annonce für Papa. Ich weiß nicht so recht, wie ich sie formulieren soll. Hilfst du mir? Danke und
bis bald!“
„Ich hasse Anrufbeantworter“, knurrte sie als sie das Telefon zurückstellte.
„Da kannst du mal sehen, wie wichtig ich ihnen bin.“ Frieder hatte auch seinen Senf dazu zu geben. „Keine Zeit, immer im Stress. Von den beiden wirst du keine Hilfe zu erwarten haben.“
„Ich erwarte auch keine Hilfe, nur einen Rat“, wehrte sich Helga.
„Ja, ja nimm sie nur in Schutz deine Schätzchen. Das hast du schon immer so gemacht. Sie wollen ja gern, sie können nur nicht.“
„Frieder, deine Vorhaltungen brauche ich jetzt nicht. Vielleicht hast du ja eine Vorstellung, wie deine Annonce aussehen soll.“
„Das hatten wir doch schon. Für mich nicht, ebenso wenig wie eine Trauerfeier und ein anschließendes Abfüttern der trauernden (er lachte ein hämisches Lachen) Hinterbliebenen.
Wenn du das alles trotzdem willst, musst du schauen wie du klar kommst.“
„Du wirst schon sehen, ich schaffe das auch allein!“ Helga setzte die Brille gerade und nahm sich die Zeitung.
Als es Schlafenszeit war, hatte sie einen, für ihre Vorstellungen vernünftigen Entwurf vorbereitet, und da ihre Tochter nicht angerufen hatte, würde sie diesen Text morgen zur Redaktion der
Tageszeitung bringen.
Nachdem sie ihrem Frieder gute Nacht gewünscht hatte, legte sie sich auf der Couch zum schlafen nieder. Von heute an würde sie keinen Wecker mehr stellen, nahm sie sich vor.
Sie würde von ganz allein wach werden, denn niemand erwartete mehr, dass sie Kaffee kochte, Brötchen besorgte, den Tisch deckte und kleine Überraschungen präsentierte, wie ganz frisch gekochte
Marmelade oder ein Frühstücksei oder Obstsaft oder ein Müsli mit Nüssen und mit Kakao ummantelten Rosinen. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie darüber froh sein sollte. Die Rituale, die sie
über Jahrzehnte gepflegt hatte, gab es nicht mehr, und das fehlte ihr schon jetzt. Sie hatte Zeit, ihr Selbstmitleid zu pflegen.
Der nächste Morgen stieg grau über die Hügel. Helga verspürte keine Lust, aufzustehen und sich dem Alltag zu stellen.
„Willst du nicht Kaffee kochen gehen?“ Frieder war schon sehr wach für Helgas Begriffe.
„Für wen soll ich denn Frühstück machen? Du hast doch schon, oder?“
„Guten Morgen, liebe Frau, schlechte Stimmung heute?“
„Ach, Frieder, mit schlechter Stimmung komme ich auch nicht weiter. Es liegen so viele Dinge an, die ich tun muss und niemand hilft mir. Ich muss Handwerker bestellen, damit die Garagenruine
abgerissen wird, und ich muss mit der Versicherung reden, ob sie den Schaden reguliert, und ich muss mit dem Abschleppunternehmen verhandeln wegen deines Autos. Ich muss in die Stadt, die Annonce
aufgeben, und ich muss auch in der „Linde“ das Essen für die Goldene Hochzeit stornieren, und dafür eben das andere Essen bestellen.“
„Welches andere?“
„Frieder, stell dich nicht so blöd, du weißt schon welches.“
„Hm, dann solltest du aufstehen und dich auf den Weg machen. Aber frühstücken nicht vergessen, sonst kippst du mir noch um, und dann sind wir schneller wieder beisammen, als es dir lieb ist.“
„Du bist und bleibst unmöglich, Frieder! Denkst du, es macht mir Spaß, dich unter die Erde zu bringen? Wir wollten zusammen alt werden, vergiss das nicht.“
„Sind wir doch auch geworden. Oder sind fünfzig Ehejahre nicht lang genug? Früher waren die Leute froh, wenn sie die Silberhochzeit zusammen erlebt haben.“
„Ja, ja, früher! Früher war alles anders. Ich geh jetzt ins Bad.“
Helga räumte ihr Bettzeug ins Schlafzimmer öffnete die Terrassentür, bereitete die Kaffeemaschine vor und ging duschen.
An diesem Morgenkaffee liebte sie den ersten Schluck. Heiß und bitter, voller Aroma und Trost, dazu ein halbes Brötchen mit etwas Konfitüre und der Tag war schon fast bewältigt.
Zuerst würde sie die Anrufe erledigen, die auf ihrer Liste standen. Die waren verhältnismäßig schnell abgearbeitet. Das Auto würde verschrottet werden und sie bekam, glücklicherweise hatte
Frieder eine Vollkasko, noch den Zeitwert des Autos erstattet. Nach Abzug der Abschleppkosten waren das immerhin noch ein paar hundert Euro.
„Jetzt bist du froh, dass ich die Versicherung nicht gekündigt hatte“, meldete er sich schon wieder. „Aber gemeckert hast du immer, wenn sie fällig war. Das wäre schon fast die Anzahlung für ein
kleines Gebrauchtes.“
„Mit dem du wo durch die Garagenwand brettern würdest?“ fragte Helga spitz.
„A pro pos Garage, der Maurer kommt morgen und schaut sich den Schaden an. Dann sehen wir weiter. Ich denke, es kommt nur ein Abriss in Frage. Sonst wird die Brühe teurer als das Fleisch.“
„Wie du meinst, aber es war so eine schöne Garage und mein ganzes Werkzeug, willst da das auch wegwerfen? Frag vorher den Jungen, ob er etwas braucht.“
„Unser Junge hat noch nie einen Schraubenzieher in der Hand gehabt. „
„Dreher, Helga, es heißt Schraubendreher!“
„Du immer mit deiner Pingeligkeit! Dann eben Schraubendreher, aber er wird trotzdem nie ein Handwerker werden. Ebenso wenig wie Ulrike oder Hanno.“
„Was bist du wieder gereizt, du weißt, dass ich den Ton nicht mag.“
„Dafür ist es jetzt zu spät. Von nun an kann ich meckern mit wem ich will und in welchem Ton auch immer, Frieder.“
„Na, dann, bis später!“ Frieder schaltete sich ab.
Die Annonce gefiel Helga auch am Morgen noch. Schlicht und stilvoll würde sie in der Zeitung erscheinen, ihrem und Frieders Geschmack angemessen.
Im Lokal, das sie für die Goldene Hochzeit angemietet hatte, begrüßte man sie mit Leichenbittermiene wie überall sonst auch. Aber als sie darüber sprach, dass die Trauerfeier für ihren Mann hier
stattfinden sollte, fand man zu ganz normaler Geschäftigkeit zurück. Die Zahl der Besucher würde in etwa gleich bleiben, nur das Ambiente dem Anlass angemessen geändert werden. Auch kein Sekt und
ähnliche spritzigen Getränke sollten angeboten werden, eher Kaffee und Wein, wenn man es denn wünschte. Dem Lokal entstünde kein finanzieller Verlust. Nur den Termin müsste man noch anpassen.
Aber darin sahen die Betreiber des Lokals kein Problem.
5. Trauerfeier
Und dann war er da, der Tag, vor dem es Helga so gegraut hatte.
Gerade war sie etwas ruhiger geworden, da wurde alles wieder aufgewühlt, und die schmerzende Wunde in ihrem Herzen blutete erneut.
Alles, was in ihrer Macht stand, hatte sie in die Wege geleitet. Jetzt musste sie noch einmal alle Kräfte mobilisieren, der Kinder wegen und auch wegen Frieder, der es nie mochte, wenn sie in
Tränen ausbrach.
Schon hörte sie ihn sagen: “Dass du mir bloß nicht rumheulst, Helga, du weißt, ich mag das nicht.“
„Ach, hör mir doch auf mit deinen Sprüchen, Frieder! Ich möchte dich sehen, wenn du an meinem Grab stehen müsstest.“
„Das ist mir ja zum Glück erspart geblieben meine Liebe. Aber es gibt trotzdem keinen Grund zum weinen. Ich bin doch da. Immer in deiner Nähe, also reiß dich zusammen, mach dich hübsch und gib
den Leuten keinen Anlass zum reden. Tu mir den Gefallen, bitte.“
„Ich versuche es, Frieder, aber versprechen kann ich es nicht. Zufrieden?“
„Zufrieden.“
Helga zog den dunklen Hosenanzug an, den sie sich gekauft hatte, darunter einen anthrazitfarbenen Pulli, schwarze Schuhe mit Absatz. Die schönen
Perlen, die ihr Frieder zum letzten Geburtstag geschenkt hatte legte sie zum ersten Mal um.
Eigentlich mochte sie keine Perlen. Perlen bedeuten Tränen, hatte ihre Mutter behauptet, und jetzt hatte sie den Beweis.
„Hübsche Perlen trägst du heute.“
„Frieder, lass mich! Du weißt, dass es die Perlen sind, die du mir geschenkt hast. Konnten es nicht Steine sein? Vielleicht Smaragde oder Rubine oder einfach nur Strass? Dann wäre das alles nicht
passiert.“
Helga griff in ihre Handtasche, um ein Taschentuch heraus zu fischen.
„Lass es stecken! Du brauchst es nicht. Du siehst gut aus. Eine sehr attraktive trauernde Witwe.“
„Frieder, ich sehe dein unverschämtes Grinsen, auch wenn ich dich nur hören kann. Du machst mich wütend.“
„Besser wütend als traurig. Geh jetzt, das Taxi und Hilde warten schon. Wir sehen uns gleich.“
Hilde stand schon in der Einfahrt. Im schwarzen Kostüm, das um die Knie herum ein wenig zu kurz und um die Taille ein wenig zu eng war. Auf dem Kopf ein schwarzes Hütchen mit Schleier, das ihr
sicher schon beim Tod des eigenen Mannes gute Dienste geleistet hatte. Anzunehmen, dass auch ihre Pumps das letzte Mal vor längerer Zeit das Licht des Tages gesehen hatten.
Unsicher stakste sie auf die geöffnete Tür des Autos zu.
„Nun komm schon, Helga, es wird Zeit“, drängte sie, und Helga stieg ein.
In Gedanken ging Helga das Programm noch einmal durch, das sie mit dem Pfarrer besprochen hatte. Alles war bedacht worden.
Schade, dass beide Kinder erst im letzten Moment kommen würden. Sie wollten gleich zum Friedhof fahren. Alles in letzter Minute.
Das Taxi hielt vor dem Haupteingang, und der junge Fahrer half beiden Frauen höflich beim Aussteigen.
Der Weg schien Helga endlos zu sein. Kies knirschte unter ihren Schuhen, und jedes Steinchen schien sich ihr mitten ins Herz zu bohren.
An der Tür der Aussegnungshalle warteten Ulrike und Jens-Uwe mit ihren Partnern schon.
Eine Umarmung für die Mutter und ein paar geflüsterte Worte, dann betraten sie den Raum, immer gefolgt von Hilde auf deren unsicheren Beinen.
Die vorderen Reihen waren für die Familie reserviert, kleine Blumengestecke lagen bereits auf den Sitzen, und als Helga aufschaute, blickte sie in Frieders lächelndes Gesicht, das ihr vom Foto
mit dem Trauerflor entgegenstrahlte.
„Sind ja alle gekommen, hätte ich nicht gedacht“, hörte sie ihn wispern. „Bin mal gespannt, wie lange sie zu bleiben gedenken. Ganz bestimmt bis nach dem Essen, das werden sie noch mitnehmen,
aber dann, du wirst sehen, haben sie es plötzlich ganz eilig.“
Die Musik setzte ein und Frieders Stimme verschwand unter den Klängen.
Es war eine feierliche Zeremonie. Als die letzten Takte erklangen, erhoben sich die Trauergäste und gaben Frieders grüner Urne mit dem goldenen Knauf das letzte Geleit.
„Konntest du nicht eine etwas dezentere Urne aussuchen?“ flüsterte Ulrike ihrer Mutter zu. „Grün und Gold, wie unpassend!“
„Finde ich auch“ war die Bemerkung Jens-Uwes.
„Papa hat diese gewollt“, meinte Helga und ihre Kinder schauten sie an, als ob sie nicht mehr ganz bei sich wäre.
“Du hättest dich besser um Mutter kümmern müssen“, zischte Jens-Uwe seiner Schwester zu.
„Wieso ich, bist du nicht ihr erwählter Liebling?“ Ulrike giftete zurück.
Zum Glück bekam Helga davon nichts mit. Ihre Aufmerksamkeit galt Hilde, die hinter ihrem Schleier fast vor Tränen zerfloss. Wer Hilde nicht kannte, hielt sie für die trauernde Witwe.
Helga reichte ihr ein frisches Tempo, damit sie nicht gar so laut schniefte.
Mit dem Essen waren dann alle zufrieden und der zunächst gedrückten Stille folgte sehr bald eine lebhafte Unterhaltung.
„Hab ich´s nicht gesagt?“ hörte Helga ihren Frieder grummeln.
„Bei unserer Goldenen Hochzeit hätte es nicht lauter zugehen können. Haben sie dich schon gefragt, ob ich etwas zu vererben habe?“
„Wer?“ fragte Helga erschrocken. „Unsere Kinder natürlich, wer sonst. Oder willst du auch Hilde am Erbe beteiligen?“
„Frieder, jetzt hör mal auf mit diesem Quatsch. Wen sollte dieses Thema an einem Tag wie diesem interessieren. Für ein Gespräch darüber wird es noch viele andere Möglichkeiten geben.“
Jens–Uwe setzte sich auf den freien Stuhl neben seine Mutter.
„Muss ich mir Sorgen machen, Mama? Ich beobachte dich schon die ganze Zeit und habe das Gefühl, du redest mit dir selbst. Vielleicht brauchst du ärztliche Hilfe nach diesem Ereignis.“
„Nein, mein Junge, keine Angst, es ist alles in Ordnung mit mir. Es war wirklich ein bisschen viel in den letzten Wochen, aber jetzt wird alles ruhiger werden. Die ganzen Aufregungen muss man
schließlich erst einmal verdauen.“ Helga tätschelte seinen Arm.
„Dann ist es ja gut. Mama. Was ich dich fragen wollte“, Jens-Uwes Stimme zögerte ein wenig, bevor er weiter sprach.
„Hat Papa ein Testament gemacht?“
Helga erstarrte. Frieder hatte mal wieder Recht. Aber diese Frage gehörte nicht hierher, nicht an diesem Tag, und so blieb ihre Antwort entsprechend reserviert.
„Meinst du, mein Junge, das ist der rechte Augenblick nach einem Testament zu fragen? Darüber können wir an jedem anderen Tag reden, aber nicht heute. Das verstehst du doch, oder?“
„Natürlich verstehe ich das, Mama, aber wir müssen heute noch zurück, und ich könnte ein paar Tausender gerade gut gebrauchen.
Das neue Auto, weißt du!“
„Da wirst du noch ein wenig warten müssen. Es sind noch so viele Dinge nicht geklärt und ob es ein paar Tausender sind, die übrig bleiben, das bezweifle ich.“
„Ich habe immer gedacht, Papa hätte ordentliche Rücklagen. Da muss ich eben sehen, wo ich anderweitig Geld auftreibe. Die Zinsen sind ziemlich hoch, derzeit.“
„Tut mir leid, dass du mit Geld gerechnet hast, das es nicht gibt.“
„Wieso gibt es kein Geld?“ Ulrike saß plötzlich an Helgas anderer Seite.
„Habt ihr keine Altersvorsorge getroffen und andere Spardepots angelegt?“
„Altersvorsorge schon, Uli. Aber wie es der Name schon sagt, ist es eine Vorsorge für unser Alter, und das ist festgelegt. Andere Spardepots? Wovon denn? Wir haben euch studieren lassen und immer
finanziell unterstützt. Was sollte da noch übrig bleiben zum sparen? Könnt ihr nicht warten, bis das alles rechtlich geklärt ist? Ich kenne mich damit nicht aus, und heute ist das auch nicht mein
Thema. Du fragst das sicher jetzt, weil du heute Abend wieder fahren musst. Dein Bruder kann leider auch nicht bis morgen bleiben.“
Helga erhob sich von ihrem Platz.
„Ich muss mich mal ein bisschen um die anderen Gäste kümmern. Die Männer von Frieders Kegelclub sind schon ganz schön beschwipst.“
„Mama, jetzt sei doch nicht gleich beleidigt!“ Ulrike fasste ihre Mutter am Handgelenk.
„Lass mich los, Tochter, ich bin nicht beleidigt, nur enttäuscht. Von meinen Kindern hätte ich nie erwartet, was ihr mir heute abverlangt. Ich wünsche euch eine gute Heimfahrt.
Vielleicht erlaubt es eure Zeit, mir mitzuteilen, dass ihr gut angekommen seid, auch wenn es spät wird. Ich würde besser schlafen können.“
Helga suchte nach Hilde. Die hatte ihr Hütchen inzwischen abgelegt und sich von ihren unbequemen Pumps befreit. Sie berichtete eifrig von Frieders Unfall, den sie ja so hautnah miterlebt hatte.
Von dem einen oder andern Viertel Rotwein waren ihre Wangen gerötet, und die Aufmerksamkeit der Kegelbrüder tat ihr sichtlich wohl.
„Ich bestelle mir ein Taxi, Hilde. Willst du mitfahren?“ fragte Helga die Nachbarin. Aber Hilde war gerade so schön in ihrem Element. Sie wollte noch bleiben.
Helga verabschiedete sich von ihren Kindern und gab noch ein paar Anweisungen an die Wirtsleute. Sie würde morgen wiederkommen um die Rechnung zu begleichen.
Zuhause setzte sie sich ins dunkle Wohnzimmer und weinte die Tränen, die sie sich den ganzen Tag über verboten hatte. Die mühsam aufgebaute Haltung brach mit einem Mal zusammen.
„Helga“, hörte sie Frieders tröstende Stimme, „Ich bin doch bei dir, alles wird wieder gut.“
„Wer`s glaubt“, schniefte sie.
„Du hast es gewusst, bevor es die Kinder ausgesprochen hatten, und ich habe es nicht geglaubt. Sie können nicht erwarten, an ihr Geld zu kommen. Ach, Frieder, warum hast du bloß nicht auf mich
gehört und ein Testament gemacht?! Am liebsten würde ich ihnen alles geben was wir haben, dann gäbe es wenigstens keinen Streit.“
„Untersteh dich, Helga! Sie bekommen den Pflichtteil und keinen Euro mehr. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
So war er, ihr Frieder, der Mann mit der deutlichen Ansage. Und er hatte ja sooo Recht. Genau so würde sie es machen.
In der Küche belegte sie sich eine Scheibe Brot und goss sich ihren Rotwein ein. Frieders Sessel ließ sie frei. Sie setzte sich auf die Couch und legte die Füße hoch.
Auch diesen Tag hatte sie gemeistert. Sie konnte sich auf die Schulter klopfen, sie hatte Kraft und Stärke bewiesen. Alles andere brachte die Zeit.
Alles auf Anfang
„Mistkerl!“, zischte Helga durch die Zähne.
Das war dann doch des Guten zu viel. Frieder, ihr verstorbener Ehemann, hatte ihr gerade ganz prosaisch
mitgeteilt, dass er im anderen Leben „jemand kennengelernt“ hätte.
Das brachte sie so in Rage, dass sie ihre Müdigkeit vergaß und ihn mit Worten beschimpfte, von denen sie nicht
geglaubt hätte, dass sie ihrem Sprachschatz entstammen könnten.
Seit er tot war, hatte er sie heimgesucht mit seiner imaginären Gegenwart, hatte Weisheiten von sich gegeben,
auf die sie gut und gerne verzichten konnte. Aber ihre Höflichkeit gebot es ihr, ihn anzuhören und, wie sie meinte, in sehr bescheidenem Umfang darauf zu reagieren.
Ihr irdischer Bund sei mit seinem Ableben beendet, argumentierte er.
Dabei war sie davon ausgegangen, er würde sie im Jenseits erwarten, wenn sie einmal diese Schwelle
überschreiten müsste.
Er hatte sich anders entschieden, gut! Aber sie würde ihre Konsequenzen ziehen und die Freiheit, die er ihr
zurückgegeben hatte, auskosten bis zur Neige. Ohne Skrupel und moralische Bedenken.
Ihr Zorn legte Bilder auf die Netzhaut; flammend, lodernd, rot glühend.
Noch war sie eine ansehnliche Frau, noch fiel sie auf.
Solange Frieder in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatte, war ihr das völlig egal gewesen, und sie hatte nicht
einmal bemerkt, wenn sie jemand wohlwollend betrachtete. Danach stellte es sich etwas anders dar. Sie spürte die abschätzenden Blicke der Männer.
Die Bedeutung schätzte sie als gering ein, denn laut Statistik lebten Frauen länger als Männer.
Aber es gab ausreichend Möglichkeiten, den Mangel zu nutzen. Doch darüber würde sie heute nicht mehr
nachdenken.
Morgen war auch noch ein Tag, und Rache musste gut geplant sein, sonst ging am Ende der Schuss nach hinten los,
und eine solche Blöße würde sich Helga Nebelung nicht geben.
Sie atmete bis in die Zehenspitzen ein und ließ sich vorsichtig auf ihre Couch sinken.
Früher hätte sie sich in ihrem ungestümen Zorn einfach fallen lassen. Jetzt setzte der Rücken ihr Grenzen, die
sie widerwillig akzeptieren musste.
Frieder schaute unschuldig und freundlich aus seinem Bild auf sie herab. Bei diesem Blick flammte ihr Unmut
erneut auf.
Sie erhob sich mit einem leisen Ächzen, entfernte den Weihnachtsschmuck von seinem Foto, den sie, bevor sie
weggefahren war, liebevoll vor ihm postiert hatte. Sie öffnete die Rückseite des Rahmens und entfernte das Foto mit einem heftigen Ruck, sodass es am Rand einriss.
„Wage es nicht, auch nur einen Ton von dir zu geben!“, zischte sie das Foto an, aber Frieder schwieg. Er hatte
ja jemanden kennengelernt! Ha!
Helgas Telefon klingelte. Sie zwang sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.
„Nebelung“, meldete sie sich mit einem Fragezeichen am Ende.
„Helga, ich bin’s, Hilde“, meldete sich ihre Nachbarin.
„Ich sehe dich durch dein Wohnzimmer tigern. Was ist los? Hast du ein Problem? Kann ich dir helfen? Ist dir die
Reise nicht bekommen? Soll ich mal rüberkommen?“ Atemlos wie immer ratterte Hilde ihre Fragen herunter.
„Beobachtest du mich jetzt schon mit Egons Nachtglas?“
Helga war nahe daran zu explodieren.
„Helga, beruhige dich doch! Dein Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Da brauche ich Egons Nachtglas nicht. Ich
mache mir nur Sorgen, und das ist doch wohl erlaubt unter alten Bekannten, wie wir es sind.“
Hilde klang wirklich aufrichtig beunruhigt.
„Nein, es ist nichts von alledem. Ich war hier auf meinem Sofa ein bisschen eingenickt und habe wohl etwas
Unangenehmes geträumt, mich im Traum gewehrt und bin mit dem Schienbein an die Tischkante geprallt. Du kannst dir vorstellen, wie weh das tut. Ich habe mich selbst beschimpft und vor Schmerz
herumgetobt. Jetzt geht es schon wieder. Du brauchst nicht zu kommen. Ich nehme noch ein paar Kügelchen Arnika, damit es keine blauen Flecken gibt. Geh schlafen, Hilde, es waren aufregende
Tage.“
„Ja, aufregend schon, aber es war so schön, mit einer ganzen Familie Weihnachten zu feiern. Schlafen geh ich
noch nicht, es kommt ein Krimi im Fernsehen. Wallander, weißt du, so etwas zum Gruseln. Dabei schlafe ich herrlich ein.“
„Jeder nach seiner Fasson“, murmelte Helga, wünschte Hilde eine Gute Nacht und legte auf. Sie war zwar jetzt
etwas abgelenkt, aber beruhigt hatte sie sich noch lange nicht. Vielleicht sollte sie sich auch Wallanders Krimi anschauen. Sie könnte etwas lernen. Wie man zum Beispiel einen ungetreuen Ehemann
umbringt.
Aber so richtig untreu war er gar nicht. Jedenfalls nicht im Leben. Oder hatte sie seine Seitensprünge
übersehen? Sie würde grübeln müssen.
Doch für heute war genug Zorn verraucht. Ab morgen brauchte sie diese Energie für andere Dinge.
Styling
Träume sind doch manchmal sehr aufschlussreich und erhellend, dachte Helga, als der Morgen heraufzog. Sie hatte
sich im Schlaf als jüngere Frau gesehen, sehr gepflegt, modisch frisiert, professionell geschminkt, mit einer leuchtend roten Brille auf der Nase. Rundum eine ansehnliche Person.
Noch waren die Raunächte mit ihrer Magie nicht abgelaufen. Wollte ihr das Schicksal einen Wink geben, dem sie
folgen sollte?
Etwas schwerfällig, aber rückengerecht erhob sie sich aus ihrem Bett und ließ sich von einer warmen Dusche
umschmeicheln, die sie wie immer mit einem kalten Guss beendete.
Beim Abtrocknen stellte sie sich ihren Geistern, indem sie ihren Spiegel befragte.
Naja, wie dreißig sah sie nicht mehr aus. Röllchen auf den Hüften und am Bauch. Auch die Muskulatur an Armen
und Oberschenkeln ließ in ihrer Festigkeit nach. Das Dekolleté konnte sie noch herzeigen, allerdings zeigten sich auch hier schon Altersflecken. Mit etwas Make-up ließe sich das bestimmt
kaschieren. Von einer Frau erwartete man einfach das perfekte Aussehen. Welcher Mann verfügte in diesem Alter noch über einen muskulösen Oberkörper oder einen festen Bauch?
Auch Männer trugen die Spuren der Jahre. Frieder zum Beispiel hatte sich eine kleine, runde Kugel zugelegt, die
er tapfer als „hohen Magen“ bezeichnete und sie ihren Kochkünsten zuschob.
Ärgerlich wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab. Frieder, diesen Namen wollte sie nicht mehr denken,
geschweige denn, seine Äußerlichkeiten oder Ansichten vergleichend zurate ziehen.
Was aber wollte sie? Einen Partner? Einen Freund? Einen, mit dem man seine Zeit verbrachte oder einen, mit dem
sie sich auch vorstellen könnte, dass er mit ihr und bei ihr lebte?
Wollte sie überhaupt einen Mann wieder so dicht an sich heranlassen, dass er ihre verwelkende Körperlichkeit
bemerkte?
Würde sie sich in das Abenteuer Rache stürzen mit allen Konsequenzen? Ja oder nein, darüber musste sie sich
erst einmal klar werden.
Eigentlich hatte sie bisher nichts vermisst. Und wo sollte sie ein männliches Exemplar ihrer speziellen
Vorstellungen hernehmen, das nur den Spaß mit ihr teilen wollte und nicht das Bett? Im Bus? Auf dem Markt? An der Tankstelle?
Was würden ihre Schwester, Henry und Hilde denken, wenn sie plötzlich anfing, Männer zu treffen?
Helga zweifelte an ihrer Zurechnungsfähigkeit.
Aber da war diese Verletzung durch Frieders letzte Worte und ihr Trotz regte sich erneut.
Internet, dachte sie. Da gibt es doch so etwas wie Partnerbörsen. Wenn sie ins Netz ging, öffneten sich auf der
rechten Seite ihres Blickfeldes immer mal wieder Hinweise, denen sie bisher keinerlei Beachtung geschenkt hatte. “Männer in ihrer Nähe“, oder „e-Darling, die sicherste Kontaktbörse“, oder
„Parship“ und sie finden, was immer sie suchen. “Heartbreaker“, „friendscout 24, „elitepartner“ oder „kissnofrog.com“ kostenlos. Da würde sie sich in
naher Zukunft informieren.
Doch zuerst wollte sie schauen, was man mit entsprechenden Mitteln aus einer 70-Jährigen herausholen
konnte.
Schönheitsfarm war vor Jahrzehnten ein beliebtes Geschenk der Männer an ihre Frauen gewesen, wenn sie nicht
mehr wussten, womit sie ihre Angetrauten noch überraschen konnten. Denn es gab nach dreißig oder mehr Ehejahren keinen Finger mehr, an dem kein Ring steckte.
Ob das immer noch ein Erfolgsmodell war?
Heute drehte sich ja alles um Wellness.
Also würde sie zunächst da suchen.
Gerade fuhr der PC hoch, als Hilde erschien. So früh am Morgen kam sie sonst nicht. Es musste etwas Wichtiges
passiert sein.
„Helga, guten Morgen! Stell dir vor, was ich bekommen habe! Von den Verwandten aus Sachsen! Ein
Weihnachtsgeschenk!“ Sie wedelte aufgeregt mit der mittlerweile verschlissenen Alditüte vor meiner Nase herum. Ich sollte ihr mal eine neue besorgen. Ob es auch eine von Lidl tut?
„Habe ich Röntgenaugen?“, knurrte ich sie an.
„Natürlich nicht!“ Missbilligend schüttelte sie den Kopf und zog ihre Überraschung aus der Tüte.
Ein Buch.
„Kreative Strickmuster für Fortgeschrittene“, las Helga. „Das ist ja mal ein passendes Geschenk für dich, meine
Liebe!“
„Findest du auch? Ich habe mich so sehr gefreut, dass sich mal jemand Gedanken gemacht hat, woran ich Freude
haben könnte. Ich habe schon alles durchgeblättert.“
Ihre Zunge befeuchtete den Zeigefinger. Flink wendete sie die Seiten, um Helga zu zeigen, welche Möglichkeiten
sich ihrer Kreativität auftaten. Sie redete, erklärte und plante. Theoretisch hatte sie innerhalb von fünf Minuten das Arbeitspensum für das nächste halbe Jahr festgelegt.
„Wenn du demnächst in die Stadt fährst, musst du mich unbedingt mitnehmen, Helga. Ich brauche dringend passende
Wolle.
Bis dahin kann ich ein paar Muster ausprobieren und dein Weihnachtsgeschenk steht auch noch aus. Du weißt ja,
dafür war nicht mehr genügend Zeit im alten Jahr.“
„Überstürze nichts, Hilde! Schal, Mütze, Hausschuhe und Stulpen dürfen gern bis zum nächsten Weihnachtsfest
warten.“
„Meinst du? Dann bin ich ja beruhigt. Denn jetzt muss ich mich dringend mit einer gestrickten Jacke bei Egons
Neffen bedanken, und das braucht ein paar Wochen.“
Hilde packte ihr Buch in die Tüte und hastete davon.
„Wir sehen uns zum Kaffee“, rief sie über die Schulter ohne eine Antwort abzuwarten.
Helga schloss aufatmend die Tür und setzte sich an ihren Computer.
Partneragenturen.de tippte sie in ihre Suchmaschine.
Erstaunt stellte sie fest, dass es alle die waren, von denen sie schon am Rande ihrer Wahrnehmung Notiz
genommen hatte. Ohne und mit Eintrittsbonus.
Sie würde erst einmal bei denen reinschauen, die man ohne Gebühren benutzen konnte. Das hieß noch lange nicht,
dass sie auch kostenlos blieben. Helga war skeptisch. Seniorenbörse für Singles über 50 fand sie ganz interessant und schaute sich schon mal die Fotos an.
Das saß ein Mann auf der Bettkante und lächelte in die Kamera.
Ganz schön eindeutig! Aber alle waren jünger, als es für sie infrage kam. Die anderen blieben Mittelmaß und
fielen durch ihr Raster. Einen Adonis würde sie hier sicher nicht finden.
Vielleicht sollte sie erst einmal in der örtlichen Presse annoncieren, anonym natürlich, und schauen, was sich
in der näheren Umgebung bot.
Internet war immer noch eine Option, wenn das andere aussichtslos blieb. Aber da war auch noch die
Schönheitsfarm, nach der sie schauen wollte.
Schönheit schien nicht mehr gefragt zu sein. Dafür Wellness in allen Variationen.
Nicht gerade billig!
Drei Tage 300 € mit Candle Light Dinner.
So ein Unsinn! Wenn sie ein solches Dinner wollte, brauchte sie mindestens ein entsprechendes Gegenüber. Eine
Honig-Mandel-Packung und eine Massage für so viel Geld?
Das war Helga zu teuer. Also auch hierfür erst einmal in der Stadt schauen.
Ihr Programm erweiterte sich um einen wichtigen Punkt.
Es gab bestimmt die verschiedensten Kosmetikstudios, aus denen sie sich ein passendes aussuchen konnte.
Nagelstudio, Friseur, Wäscheboutique, danach musste sie suchen. Wenn sich nichts finden ließ, dann in der nächst größeren Stadt ganz bestimmt.
Außerdem war es dort anonymer als hier, wo man nicht so ganz unbekannt war.
Hilde würde sie als „Lustige Witwe“ schmähen und ihre Schwester erst recht! Deshalb musste sie ihre Absichten
so lange wie möglich geheim halten.
Gelbe Seiten, Telefonbuch und Internetrecherche füllten sowohl den Schreibtisch als auch den Vormittag
aus.
Nach ihrer Mittagsruhe würde sie in die Stadt fahren und sich vor Ort ein Bild machen.
„Wo willst du denn hin, Helga?“, rief Hilde aus dem Küchenfenster.
„Ich habe ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen“, antwortete Helga und schloss die Autotür ihrer hübschen
blauen „Marina“ auf.
„Bist du bis zum Kaffee wieder da?“
„Ich glaube nicht!“
„Aber das kannst du doch nicht machen! Ohne Kaffee habe ich überhaupt keinen Antrieb!“
„Mach dir halt selbst mal einen! Morgen gibt es wieder welchen bei mir.“
„Bringst du auch Kuchen mit oder ein Mon Chéri?“
„Ja, Hilde, aber ich muss jetzt los, sonst wird es zu spät und du weißt ja, ich fahre nicht gern im
Dunkeln.“
Helga schloss die Tür und startete ihr Auto.
Fußgängerzone. Hier reihten sich Geschäfte aneinander wie die Waggons einer Schmalspurbahn. Alles sehr ähnlich.
Preiswert und vergleichbar.
Früher gab es anspruchsvolle kleine Läden. Heute beherrschten Ketten wie überall das Stadtbild. Alles war auf
jugendliche Käuferinnen ausgerichtet.
Für ihre Altersklasse fand sich nichts, was ihr angemessen erschien. Zwei Bodys, ein paar hübsche Hemdchen und
einige Slips in entsprechenden Farben nahm sie mit zur Anprobe. So etwas ging für sie nicht in einer Kabine.
Dazu brauchte sie Zustimmung oder Ablehnung ihres Spiegels. Der kannte sie schon lange genug und würde nicht
lügen.
Ein gerade geschnittener, schwarzer Rock, ein paar Blusen und ein silbergrauer Kaschmirpullover mit einem
kleinen, spitzen Ausschnitt wanderten in die große Einkaufstüte. Außerdem einige Paare verschiedenfarbiger Strumpfhosen. Dabei mochte sie eigentlich keine Strumpfhosen. Sie bekam immer kalte
Füße, wenn sie welche trug.
Aber Hosen waren nicht sehr weiblich. Sie würde in den sauren Apfel beißen müssen. Schals und Tücher hatte sie
genügend, auch den entsprechenden Schmuck. Schuhe sollte sie noch anprobieren. High Heels kamen nicht mehr infrage, aber Absatz musste sein.
Eine junge Verkäuferin beriet sie sehr freundlich, und sie hatten Spaß miteinander. Schließlich wurden es zwei
Paar mit einem moderaten Absatz und sehr eleganter Passform, die sie sowohl zum Rock als auch zur Hose tragen konnte. Auf dem Weg zum Parkplatz stachen ihr aus einem Schaufenster eine
wunderschöne rote Handtasche und die dazu passenden Handschuhe ins Auge.
So etwas hatte sie sich schon immer gewünscht. Zum grauen Kostüm anlässlich ihrer Hochzeit wollte sie so gern
rote Schuhe und einen roten Hut tragen, aber das war leider ein Wunsch geblieben.
Jetzt war sie siebzig plus. Der Vorteil dieses Alters allerdings war, dass man ihr keine zweideutigen Absichten
mehr unterstellen konnte, wenn sie sich Tasche und Handschuhe in Rot kaufen würde.
Nur Mut, Helga, redete sie sich gut zu, und zu ihren Tüten gesellte sich eine weitere.
Das Geld für das Wellnesswochenende hatte sie schon mal ausgegeben.
Am Kiosk kaufte sie schnell noch die Tageszeitung. Dann fuhr sie nach Hause.
Kaum war die Autotür abgeschlossen, erschien Hilde in der Haustür.
„Gut, dass du es noch bis zum Kaffee geschafft hast. So lange kann man es doch in der Stadt gar nicht
aushalten. Was hast du denn gekauft? Die vielen Tüten! Und so große dazu! Warte, ich brauche noch meinen Schlüsselbund!“
Helga stöhnte. Konnte sie nicht einmal unbemerkt ihr Haus betreten oder verlassen? Sie hätte zu gern jetzt
alles noch einmal angeschaut und anprobiert. Aber Hilde hielt man nicht auf. Vorsichtshalber stellte sie ihre Einkäufe im Schlafzimmer ab. Dahin würde Hilde hoffentlich nicht ohne Aufforderung
gehen.
Hilde schloss die Haustür hinter sich und stürmte in die Küche.
„Zeig doch mal, was du gekauft hast!“, forderte sie Helga auf. Aber die setzte vorsichtshalber und zur
Ablenkung die Kaffeemaschine in Gang.
„Was soll ich schon gekauft haben? Dinge für den täglichen Gebrauch. Ein paar Handtücher, eine Badestola, neue
Unterhosen. Die willst du doch nicht wirklich anschauen?!“, provozierte sie die Nachbarin.
„Nein, nein, das interessiert mich nicht, ich dachte es wäre etwas Schönes“, beschwichtigte Hilde.
„Was hast du denn zum Kaffee mitgebracht?“ Neugierig huschten die Augen über den Tisch, auf dem Helgas Tasche
stand.
„Das habe ich völlig vergessen, Hilde. Aber ich habe noch eine kleine Bonbonniere von Weihnachten. Vielleicht
tut es eine Praline auch.“
„Ja, warum nicht, wenn sie mit Creme de Champagne gefüllt ist.“
„Darunter tust du es wohl nicht?“, stichelte Helga leicht verärgert, aber Hilde tat vorsichtshalber so,
als ob sie Helgas Gereiztheit nicht bemerkte und rutschte auf ihrem Stuhl herum.
Mit einer Praline gab sie sich natürlich nicht zufrieden, und der Rest landete wie immer in ihrer
Schürzentasche als Betthupferl.
Helga protestierte nicht. Heute war sie froh, als Hilde zufrieden wieder verschwand. Sie hatte ja noch etwas
vor.
Im Schlafzimmer breitete sie ihre Schätze auf dem Bett aus. Sie begutachtete noch einmal die Qualität, strich
glatt, machte die Knitterprobe und kombinierte aus ihren Beständen, was wozu am besten aussehen könnte. Ihr Spiegel blieb unbestechlich und sagte ihr sehr schnell, was ging und was nicht.
Immerhin hatten ihre Beine, von einer Strumpfhose gestrafft, noch eine ansehnliche Form. Der Body tat auch das, was er sollte und wenn sie jetzt den Bauch noch ein bisschen einzog, dann war sie
ganz passabel.
Rock und Pullover wirkten elegant, die Perlen von Frieder setzten einen besonderen Akzent. Ihr Mantel war
zeitlos elegant, Tasche und Handschuhe bildeten einen wunderbaren Kontrast. Ob sie sich noch einen roten Hut kaufen sollte? Ihr Spiegel schüttelte den Kopf. Friseur war besser.
Ein etwas keckerer Haarschnitt, vielleicht ein paar Strähnchen und vor allen Dingen eine andere Brille. Das
alles war bedenkenswert.
Der langweilige Goldrand um ihre Augen störte sie schon lange, aber bisher hatte sie noch keine zündende Idee
gehabt.
Eine rote Brille würde sie sich anfertigen lassen, passend zu Tasche und Handschuhen.
Helga seufzte zufrieden auf und lächelte ihrem Spiegel zu. Mit jemandem musste sie ihre Pläne schließlich
besprechen. Und wenn es Frieder schon nicht mehr war, dann blieb eben nur der Spiegel. Schonungslos kritisch und unbestechlich.
Nach einem kleinen Abendessen erinnerte sie sich ihrer Zeitung. Sie wollte lesen, was die Leute in
Kontaktanzeigen so von sich gaben.
Ach du lieber Gott! Häuslich, lieb, ehrlich, treu, attraktiv, warmherzig, geerdet, tierlieb waren die meisten
Attribute, mit denen sich Frauen ein Profil gaben. Männer suchten zuverlässige, sportliche, nette, gut aussehende, intelligente, devote, schlanke oder im seltensten Fall auch mal eine mollige
Partnerin. Vielleicht weil sie selbst nicht mehr ganz so wohlgeformt daherkamen.
Eine einzige Anzeige unter mindestens hundert anderen hob sich aus der Masse der Gleichförmigkeit hervor. Da
schrieb eine Frau über sich:
„Ich bin nicht mehr jung, aber jung geblieben, nicht mehr schlank, aber noch ansehnlich.
Ich bin nicht mehr brünett, sondern gesträhnt.
Ich bin selbstbewusst und lebenserfahren.
Ich hätte gern einen Gesprächspartner und Freund, der mich, so wie ich bin, akzeptieren kann.“
Zuschriften unter … an diese Zeitung.
Das schien eine mutige Frau zu sein, die gleich darauf hinwies, wie sie sich sieht und was sie von ihrem
Gegenüber erwartet.
Diese Art Annonce fand Helgas Zustimmung und sofort überlegte sie, wie die Beschreibung ihrer Person ausfallen
könnte.
„Ich bin nicht naiv, sondern lebenserfahren.
Bin nicht brav, nett, zuverlässig, häuslich,
sportlich, zärtlich oder gut erhalten.
Ich bin nicht hübsch, aber ich habe Charakter.
Ich bin neugierig darauf, was ich noch aus meinem
Leben machen kann.
Ich suche einen Mann, der ähnlich denkt.
Keinen, der die andere Hälfte meines Ehebettes
füllen möchte, sondern
für geistige und kulturelle Gemeinsamkeiten
aufgeschlossen ist.“
So gefiel es ihr. Das eine oder andere Wort tauschte sie noch aus, dann tippte sie den Text in ihren Computer
und druckte ihn aus. Morgen würde sie ihn dann zur Zeitung bringen und warten, welche Antworten ihr zusagen könnten. Viel Hoffnung machte sie sich allerdings nicht.
Genug für heute, redete sie sich zu und ging schlafen.
Ihre Träume führten sie in die verschiedensten Geschäfte, in denen sie mit Garderobe überhäuft wurde, sich
nicht entschließen konnte, etwas zu kaufen und fluchtartig weglief, immer wieder verfolgt von Kleidern, Röcken, Blusen, Hosen, Hüten und Schuhen.
So kann man sich die Nacht verderben, dachte sie, als sie am Morgen, nur wenig erholt, aus ihren irritierenden
Träumen erwachte.
Der Tag will gelebt sein, munterte sie sich auf und überdachte den Tagesablauf.
Hilde wollte Wolle kaufen. Sie würde fragen, ob sie mitkommen will. Aber eigentlich hatte sie da keine Zweifel.
Während Hilde den Laden und die Verkäuferin unsicher machte, könnte sie in der Zeitungsredaktion ihre Anzeige aufgeben und dann einen Friseurbesuch vereinbaren. Vielleicht klappte es ja gleich.
Der Optiker lag auch auf dem Weg; das ließ sich alles in diesem Vormittag unterbringen.
Hilde stand schon an der Gartentür, als Helga kam. Eigentlich war es gar nicht januarkalt, trotzdem
präsentierte sie sich völlig neu eingestrickt.
Schal und Handschuhe hübsch bunt. Die Jacke dunkelviolett mit großen gelben Knöpfen und in einem helleren
Violett der Hut. Eine eindrucksvolle Erscheinung.
„Dieses Ensemble habe ich noch nie an dir gesehen“, staunte Helga.
„Nicht? Aber das habe ich schon eine ganze Weile, nur fehlt mir immer die Gelegenheit, mich mal stadtfein zu
machen.“ Helgas Erstaunen tat Hilde sichtlich gut und auf dem Weg zum Auto hielt sie sich sehr gerade.
„Ich bin ja wirklich gespannt, ob ich hier in der Stadt solche Wolle kriege, wie sie in meinem Buch beschrieben
ist. Wenn nicht, fährst du doch sicher bald mal nach Fulda. Da käme ich gern mit.“ Ganz selbstverständlich ging Hilde davon aus, dass Helga ihr diesen, wie so viele andere Gefälligkeiten,
erweisen würde.
„Fahr nicht in die Tiefgarage“, bat sie.
„Es sei denn, es gibt auch bei uns speziell überwachte Plätze für Frauen.“
Hätte sich Helga nicht auf den Verkehr konzentrieren müssen, hätte sie garantiert das Lenkrad verrissen.
„Du hast wohl mal wieder zu viel Bildzeitung gelesen, Hilde? So etwas gibt es hier nicht am hellen
Morgen.“
Natürlich fahre ich in die Garage, allerdings auf Deck 2, wie immer. Ich lasse mein Auto doch nicht draußen
stehen, wenn es nicht sein muss“, empörte sich Helga.
„Ist ja gut“, lenkte Hilde ein. „Wenn du auf Deck 2 parkst, ist es ja nicht so dunkel wie unten. Aber Fahrstuhl
kannst du alleine fahren. Frau Keller von gegenüber hat an Silvester im Fahrstuhl gesteckt und es hat sage und schreibe zwanzig Minuten gedauert, bis sie jemand herausgelassen hat. Stell dir das
mal vor!“
„Solange sie den Jahreswechsel nicht im Fahrstuhl feiern musste, ist es nur halb so wild“, spottete
Helga.
„Mach dich nur lustig! Zum Glück war sie nicht allein im Fahrstuhl, aber es gab nirgendwo eine Sitzgelegenheit.
Eine alte Frau steht nicht einfach so eine lange Zeit auf einer Stelle, ohne dass der Rücken streikt“, empörte sie sich.
„Dann sollten wir vielleicht bei unserem nächsten geplanten Fahrstuhlbesuch einen Klappsitz mitnehmen“, war
Helgas nicht ernst gemeinter Vorschlag, den Hilde mit einem kräftigen Nicken bestätigte.
„Schon ziemlich voll“, stellte Helga fest und fuhr noch eine Etage höher.
Hier war genügend Platz, ohne dass sie große Rangierkünste an den Tag legen musste, über die sie immer noch
nicht verfügte.
Hilde schraubte sich unter Schnauben und Prusten aus dem Sitz. Helga fürchtete jedes Mal um ihre Beifahrertür,
weil Hilde sich daran festklammerte.
Dann trennten sie sich.
„Gegen 12 Uhr treffen wir uns in der Halle. Eine wartet auf die andere“, rief Helga noch hinter Hilde her. Die
nickte und öffnete die Tür zum Treppenhaus, um Treppe für Treppe drei Stockwerke hinunter zu steigen.
Helga drückte den Knopf für den Fahrstuhl.
weiterlesen im Buch oder eBook
Vorweggenommen
Dem Dunkel folgte Licht, dem Schmerz ein unglaubliches Wohlgefühl.
Oskar schwebte über einer Szene, die er kannte und die ihm doch fremd war.
Dunkelheit und Licht, Lärm und Stille, Menschen und Fahrzeuge, Chaos und Ordnung und dazwischen er und neben ihm Ruth. Er wollte ihr helfen, doch seinen Platz über dem Geschehen wollte er nicht verlassen. Dieser schwebende, freie, glückliche Zustand sollte nicht zu Ende
gehen.
„Ruth“, rief er, „komm doch zu mir, es ist so friedlich hier und still.“
Und dann war sie bei ihm, fasste seine Hand und lächelte ihn an. Sie redeten nicht miteinander, ihre Gedanken waren Worte, nichts blieb ungesagt.
Ein starker Impuls zog sie mit großer Geschwindigkeit in ein Licht, dessen Helligkeit sie nie vorher gesehen hatten. Nie gehörte Klänge begleiteten
sie.
Auf diesem Weg wollten sie bleiben. Und dann sah er auch Erna stehen, und er sagte voller Freude:
„Erna, meine Liebe, ich bringe dir Ruth mit.“
Doch Erna schüttelte bedauernd ihren Kopf.
„Eure Zeit ist noch nicht gekommen.“
Ein Dorf im Odenwald
Da, wo die Welt zu Ende zu sein scheint, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, wo es außer zwanzig Gehöften, ein paar Kühen, Ziegen und Schafen nur
noch eine Besenwirtschaft gibt, die frischen Apfelwein und andere Spezialitäten der Region verkauft, wohnt Oskar. Das Dorf schmiegt sich in ein lang gezogenes Tal, als wollte es sich vor der Welt
verstecken. Alle Häuser reihen sich an die einzige durchgehende Straße.
Alte Gehöfte, eingesessene Namen. Seit Generationen gehört sein Name in dieses Dorf wie der Kirchturm und die Glocke. Hier ist er aufgewachsen, hier hat
er Erna geheiratet, hier wurden seine Kinder geboren, hier hat er seine Werkstatt, sein Land und sein Auskommen. Hier ist sein Leben.
Bis Erna ihm weggestorben ist. „Plötzlich und unerwartet“, hatte in der Annonce gestanden.
Aber so unerwartet war es nicht gewesen. Erna war über ein Jahr lang krank gewesen, und eigentlich hatte niemand so recht daran geglaubt, dass sie es
noch einmal schaffen könnte.
Auf dem Friedhof besuchte er sie jeden Tag und beklagte sich bei ihr, dass sie ihm nicht den Vortritt gelassen hatte. Wie sollte er ohne sie
zurechtkommen?
Erna hatte mit aller Selbstverständlichkeit erledigt, was der Tradition entsprechend, in den Bereich der
hausfraulichen Pflichten fiel. Oskar kann nicht kochen, er hat nie einen Staubwedel in die Hand nehmen müssen, geschweige denn die Spülmaschine ein- oder ausgeräumt.
Er weiß zwar wo die Waschmaschine steht, aber welche Knöpfe er bedienen muss, damit sie funktioniert, ist ihm fremd.
Erna hatte ihn immer wieder gebeten, doch wenigstens einen Blick auf die lebensnotwendigen Dinge zu werfen, aber Oskar verweigerte sich ihrem Wunsch
ebenso wie der Tatsache, dass Erna in absehbarer Zeit nicht mehr da sein würde.
Er floh in seine Werkstatt. Da kennt er sich aus, hier ist er der unumstrittene Fachmann, und keiner kann ihm das Wasser reichen. Nicht einmal seinem
Sohn gesteht er das zu. Obwohl der schon seit Jahren die Tischlerei führt, lässt Oskar sich die Zügel nicht aus der Hand nehmen.
Sein Sohn kann das lächelnd akzeptieren, er kennt seinen Vater.
Seine Schwiegertochter Gunda ist anders, und seit Erna nicht mehr da ist, lässt sie ihn seine
Abhängigkeit spüren. Sie wohnen zusammen im alten Haus und irgendwann wenn er einmal nicht mehr da sein wird, werden die Jungen das große Haus ganz
für sich alleine haben.
Gunda ist launisch. Was sein Ältester an ihr fand, war Oskar schleierhaft. Aber in die Wahl ihrer Partner hat er seinen Kindern nie
hineingeredet.
Gundas wechselnde Stimmungen machen die Atmosphäre im alten Haus oft stickig.
Dann geht Oskar auf Visite zu seinen anderen Kindern.
Er hat die Wahl zwischen drei Söhnen und drei Töchtern.
Alle sind verheiratet, für alle hat er ein Stück Land hergegeben, auf dem jetzt hübsche Häuser stehen. Eines nebenan. Da wohnen Clemens und Doris mit
ihren Kindern. Gegenüber haben Philipp und Brigitte gebaut. Zwei der Töchter besitzen Grundstücke im Nachbarort, und die Jüngste hat sich im Mietshaus, das Oskar für die Alterssicherung gedacht
hatte, die Mansarde ausgebaut. Sie will kein Eigentum.
Untypisch für ein Kind vom Land, aber sie hat andere Ideen.
Als Jüngste ist sie Oskar`s Liebling, und das weiß sie zu nutzen. Mit ein paar Schmeicheleien bekommt sie immer was sie will. Manchmal zum Ärger ihrer
Geschwister, die sehr wohl darauf achten, dass keiner mehr bekommt als der andere.
Oskar stöhnt über ihren Futterneid und spricht auch von Zeit zu Zeit das „Machtwort.“
Danach ist eine Weile Frieden, aber unter der Oberfläche brodelt es weiter. Erna hatte es immer verstanden, den Frieden unter ihren Kindern zu
erhalten.
Oskar dagegen ist kompromisslos.
Er ist der Meinung, die Kinder würden es vergelten, dass er so großzügig und selbstlos für ihre Zukunft gesorgt hat, irgendwann in ferner Zukunft, wenn
er es nötig haben würde.
Aber mit Geld kann man nicht alles kaufen. Das bekommt er zwar gelegentlich zu spüren, doch noch ignoriert er es standhaft.
Er fühlt sich gut mit seinen einundsiebzig Jahren, hat mehr zu tun als der Tag hergibt, und ist mit seinen Plänen ausgefüllt.
Er gehört dem Verein für historische Landmaschinen an, singt im Männerchor der Gemeinde und fährt mit den Senioren in der nahen Weltgeschichte herum.
Seine Schwiegertochter sorgt für Mittag- und Abendessen, kümmert sich auch um die Wäsche. Mehr braucht er nicht. Abends sitzt er zufrieden vor seinem Fernseher und sieht Krimis von 18 bis 22 Uhr.
Wenn er dann schlafen geht, hört er oft in Gedanken die Stimmer seiner Frau, die ihn fragt, ob er denn mit diesem Leben zufrieden sei, aber ganz im
Geheimen kann er das nicht bestätigen. Es gibt niemanden, mit dem er seine Gedanken teilen kann. Die Jungen leben in einer anderen Welt. Sie lassen sich vom Stress beherrschen.
Ein Wort, das es zu seiner Zeit noch nicht gab. Auch er hat lang und hart arbeiten müssen. Er kennt Erschöpfung, weiß, was es bedeutet, ausgelaugt, müde
und kraftlos zu sein, wenn der Arbeitstag beendet ist, und auch sein Arbeitstag war nicht nach acht Stunden zu Ende gewesen. Da war die
Nebenerwerbslandwirtschaft und am Wochenende die Baustellen für die Häuser der Kinder.
Aber Stress kannte er nicht.
„Vater, das waren andere Zeiten“, behaupten seine Kinder und er schweigt.
Seine Sangesbrüder haben zum großen Teil ihre Partnerinnen noch und hänseln ihn. Es müsse ihm doch wunderbar gehen, allein und unabhängig wie er
ist.
Er könne kommen und gehen, wann er wolle und wohin er wolle.
Im Prinzip ist das richtig. Aber auch als Erna noch da war, hatte sie sich nie aufgeregt, wenn er später als gewöhnlich von seiner Singstunde kam und
ein wenig angeheitert war. Sie lächelte dann und sagte: „Er hat ja sonst nichts.“
Aber einmal war er zu weit gegangen. Sie hatten Benedikts siebzigsten Geburtstag gefeiert, unter Männern, versteht sich, und da waren es ein paar
Schnäpschen zu viel geworden.
Oskar konnte aus eigener Kraft nicht mehr heim laufen. Seine Sangesbrüder waren aber auch nicht mehr nüchtern, und so packten sie ihn in Benedikts
Mistkarre und luden ihn bei Erna ab. Erna war nicht böse wegen des Rauschs, sie schämte sich vor den Nachbarn. Oskar lächelte bei dieser Erinnerung. Ja, seine Erna war schon ein Juwel gewesen. So
etwas wie sie würde es nicht noch einmal geben.
Ruth
Ruth singt gern. Wo sie geht und steht trällert sie. Hat sich eine Melodie in ihrem Kopf festgesetzt,
dann singt sie ihre eigenen Kompositionen. Manchmal mit erfundenem Inhalt, über den sie sich amüsiert und manchmal ertappt sie sich dabei, in einen völlig anderen Musikstil abzugleiten. Da kommt es schon mal vor, dass sie ein Lied verjazzt und sich vorkommt wie in „Sister Act.“
Ruth spielt Klavier. Ihr Vater wollte, dass sie es lernte und im Nachhinein war sie dankbar für seine Strenge. Ihre Musikalität bestimmte ihr
Berufsleben. Als Lehrerin unterrichtete sie Musik und Kunst. Zwei undankbare Fächer, denen die Schüler nicht unbedingt zugetan waren. Aber Ruth verstand es, ihren Unterricht fesselnd zu
gestalten.
Sie ging auf die Musikrichtungen der Gegenwart ein und hatte nebenher auch das Ohr ihrer Schüler für die klassische Variante. Bei ihr lernten sie, Musik
zu interpretieren und somit besser zu verstehen. Aber das alles lag Jahre zurück. Sie war etwas aus der Übung, seit sie ihre Zeit mit der Familie und der Erziehung ihrer Kinder verbracht hatte.
Natürlich wurde mit den Kindern gesungen und musiziert.
Die Tochter lernte Geige spielen, der Sohn Cello und Georg, ihr Mann, spielte Bratsche. Ein kleines
Quartett, das Hausmusik liebte. Ihr Flügel hatte alle begleitet und auch jetzt war er mit ihr umgezogen und nahm in ihrem neuen Zuhause einen zentralen Platz ein. Zunächst fürchtete sie, ihr
kleines Haus auf dem Land, das sie sich für ihren Alterswohnsitz ausgesucht hatte, würde dem Instrument keinen Raum
bieten, aber er nahm ihn sich.
Er steht mitten in ihrem Wohnzimmer und ist nicht nur Blickfang sondern auch Ruths liebster Zeitvertreib. Familiäre Gemeinsamkeit ist vorbei, da muss
man sich um sich selber kümmern.
Ruths Sohn lebt mit seiner Familie in Kanada, weit entfernt. Weiter als es Ruth lieb ist.
Aber in dieser schnelllebigen Zeit geht man der Arbeit nach, egal wo auf der Welt sie zu finden ist. Ruths Tochter lebt im Norden. In Winsen an der
Luhe, einem Ort, den im Odenwald kaum einer kennt. Aber auch diese Entfernung ist zu weit für ein regelmäßiges Treffen. Zum Glück gibt es Telefon und Skype.
Man hört und sieht sich auf diese Weise. Segnungen der Technik, mit denen Ruth erst umzugehen lernen musste. Enkelkinder sind dabei immer Stütze und Ansporn. Ihr jüngster Enkelsohn machte sie mit viel Geduld mit dem neuen Medium vertraut.
Sie hatte genügend Zeit, und das Üben ist nicht nur Last sondern auch Lust.
Ruth denkt einfach positiv.
Es wird sich eine neue Aufgabe für sie finden und zum passenden Zeitpunkt wird sie ihr vor die Füße
fallen. Das Leben hat sie gelehrt, dass Wollen das eine und Bekommen das andere ist. Sie wird nehmen, was sich ihr bietet.
Und dann fragt man sie plötzlich, ob sie es sich zutrauen würde, einen Männerchor zu leiten.
Einen Männerchor!
Diese Generation Männer, die alle tief in ihrem Herzen Alphamännchen sind, würden sich doch nicht von einer Frau herumkommandieren lassen. Außerdem
braucht man dafür eine Qualifikation. Chorleiter war man nicht einfach so. Ruth bittet sich Bedenkzeit aus und fängt an, im Internet zu recherchieren.
Frankfurt und Marburg bieten Wochenendseminare an.
Durch ihre Ausbildung als Musiklehrerin ist sie eigentlich genug qualifiziert, aber ein paar Wochenendseminare könnten nicht schaden. Ist das die
Aufgabe, auf die sie gewartet hat? Ruth sagt zu. Allerdings unter der Bedingung, dass sie den Chor und seine Mitglieder vorher kennen lernen kann.
Dem stimmt man zu, und so macht sie sich am Mittwoch der folgenden Woche auf den Weg, Stimmgabel und Noten im Gepäck.
Ein Gefühl wie vor dem ersten Unterrichtstag, denkt sie. Da hatte ich auch weiche Knie, und dann lief alles wie von selbst.
Das Dorfgemeinschaftshaus liegt außerhalb. Früher war es mal die Schule gewesen. Aber seit man die Schulen zentralisierte, waren sie oft von den
Gemeinden zu Treffpunkten für Familien und Vereine umfunktioniert worden.
Man hat Teeküchen eingerichtet, damit man Feste feiern kann, und viele kleinere Räume bleiben für die Arbeitsgemeinschaften. Der größte Raum ist die
Aula. Da trifft sich der Männerchor.
Es gibt keine schöneren Stimmen als Männerstimmen in einem Chor, denkt Ruth. Singen die alten Herren auch
noch so kraftvoll und klar?
Meistens sind die Stimmen der Tenöre im Laufe ihres Lebens so dünn geworden wie ihr Haarwuchs. Wir werden sehen.
Ruth öffnet mit einer energischen Geste die große Tür.
Der Männerchor
Chorprobe findet, solange Oskar im Chor singt, schon immer am Mittwoch Abend statt.
Da kommen schon ein paar Jahre zusammen. In der letzten Zeit ist der Gesang ein wenig in den Hintergrund gerückt. Ihr alter Chorleiter hat das Dorf
verlassen, und die Männer kommen sich verwaist vor. Wenn sie jetzt zusammen sitzen, braten sie sich erst einmal eine große Pfanne Rührei mit Schinken.
Knacker sind immer vorhanden und ein kräftiges Bauernbrot ebenso. Butter und Bier oder Apfelwein aus den eigenen Kellern. Jeder Haushalt hat seinen
„Äbbelwoi“ Vorrat für ein ganzes Jahr. Davon kann man gut für die Gemeinschaft etwas abzweigen. Nach dem üppigen Abendessen und ein paar Gläsern Schorle ist die Stimmung gelöst und
fröhlich.
Das eine oder andere Trinklied erklingt, dann ist die „Probe“ beendet.
So läuft das schon ein halbes Jahr. Aber jetzt hat der Bürgermeister eine Chorleiterin angekündigt.
Eine Leiterin? Eine Frau? Was soll das denn? Sie würden sich doch nicht von einer Frau vorschreiben lassen, wie und was sie zu singen hätten. Der
Aufruhr war laut und wortreich.
„Wenn du das machst, Bürgermeister, hast du die längste Zeit einen Männerchor in dieser Gemeinde gehabt“, schimpft Benedikt.
„So wartet es doch erst mal ab“, beschwichtigt der Bürgermeister.
„Eine Frau kann das genau so gut wie ein Mann. Die jedenfalls war Musiklehrerin. Die weiß was sie tut. Macht wenigstes einen Versuch“, bittet er.
Aber die Männer sind entschlossen, bei der nächsten Chorprobe demonstrativ zu fehlen. Die Dame würde schon erleben, dass man mit ihnen nicht so leicht
Kirschen essen kann.
In dieser Stimmung gehen sie auseinander, und jeder nimmt seinen persönlichen Groll mit sich nach Hause. Die Woche zieht sich hin. Am Mittwoch früh ruft
Oskar noch einmal seine Sangesfreunde an. Sie würden heute Abend daheim bleiben, sicher!
Verpatzter Anfang
Ruths Eintritt ist so entschlossen, wie es ihre Art ist. Aber da stehen nur zwei Männer neben dem
Bürgermeister und scheinen in eine hitzige Diskussion verwickelt zu sein.
„Bin ich im falschen Raum?“ fragt sie.
„Nein, nein, sie sind schon richtig, nur unsere Herren hier haben ein Kompetenzproblem.“
„Nun, dann war es das eben, ich hatte schon gleich meine Zweifel, ob Männer in der Lage sind, das Große Ganze zu sehen und nicht eine vorgefasste
Meinung gegen Frauen ins Feld zu führen. Einen schönen Abend, die Herren!“
Ruth dreht sich auf dem Absatz um und verlässt den Raum.
Wer nicht will, der hat, denkt sie bei sich.
Etwas tiefer schwingt die Enttäuschung wie ein dunkles Moll durch ihre Seele.
„War sie das?“ fragt Benedikt den Bürgermeister.
„Ja! Eine Frau, die weiß was sie will. Die hätte euch gut getan. Aber ihr seid eben Sturköpfe und eure Chance habt ihr mit diesem Auftritt
vertan.
Trinken wir noch ein Viertele auf den Schreck?“
Ein Viertele kann nie verkehrt sein, es lenkt ab.
Am nächsten Morgen geht es wie ein Lauffeuer durchs Dorf. Man hat die Dame mit der Streikaktion nicht
beeindrucken können. Das hatten die Männer nicht erwartet. „Übrigens - eine fesche Person“, berichtet Benedikt. „So groß wie deine Erna war, Oskar, aber schlanker. Ein bisschen sieht sie aus wie
die Nicole Heesters, wenn du weißt, wer das ist.“
„Ich weiß wer das ist. Eine Vorliebe meiner Erna war es, mich beim Fernsehen zu fragen wem der Mann oder die Frau ähnlich sehen könnten. Ich fand nie
eine Ähnlichkeit, aber sie behauptete immer, ganz sicher sieht der aus wie Curd Jürgens oder so. Jetzt fängst du auch an, solchen Unsinn zu erzählen.“
„Nein, wirklich, sie ist so ein Typ!“!
Benedikts Schilderung weckt die Neugier der alten Herren und am folgenden Mittwoch sitzen sie in gewohnter Runde bei Rührei mit Speck und dem einen oder
anderen Glas Wein. Es gibt reichlich viele Fragen, aber die Antworten sind nicht erschöpfend, denn worauf richten Männer ihre Aufmerksamkeit?
Nicht auf die Persönlichkeit sondern auf die Person.
„Sie ist mittelgroß, hat kurz geschnittenes Haar, schon leicht angegraut. Sie trug einen Hosenanzug, Farbe dunkel, einen lila Schal, Schuhe mit Absatz.
Sehr elegant, eben so ähnlich wie Nicole Heesters. Oskar verdreht die Augen. Fängt Benedikt schon wieder damit an! Aber er ärgert sich, dass er nicht
dabei war. Das Aussehen war ihm vollkommen egal.
Was ihn vielmehr beschäftigte war, dass diese Frau Charakter gezeigt hat. Eine, die sich von einer Riege alter Herren nicht ins Bockshorn jagen ließ.
Vielleicht sollte man es doch mit ihr versuchen. Aber das würde ein hartes Stück Arbeit werden.
„Sollten wir nicht noch einmal mit ihr reden?“ Bei Oskars Frage verstummt die allgemeine Diskussion.
„Nun bist du neugierig, Oskar, was? Bei der Frau wirst du kein Glück haben. Da musst du schon im Staub kriechen sonst lässt die dich nicht einmal zur
Tür rein.
Die hat Haare auf den Zähnen, das habe ich schon auf den ersten Blick gesehen.“
Benedikt grinst. „Aber der Bürgermeister hat Recht. Sie hätte uns gut getan.“
„Dann sollten wir uns mal überlegen, wie wir die Bestie besänftigen.“
Eine Abordnung mit Blumen, eine schriftliche Entschuldigung, eine erneute Fürsprache des Bürgermeisters, sind die Vorschläge der Männer.
„Den Bürgermeister könnt ihr vergessen, der legt sich nicht noch einmal für uns
ins Zeug.“
Eine schriftliche Entschuldigung wäre die eleganteste Lösung, nur,
wer war in der Lage, so etwas zu formulieren, damit sie sich nicht blamierten?
Die beste Lösung ist die Abordnung mit Blumen, da sind sie sich sicher und das würden sie in Angriff nehmen. Die Frage, wer der Delegation von
Bittstellern angehören sollte, stand noch im Raum. Einer verwies auf den anderen, und der wiederum hatte dringende Termine, Verrichtungen oder sogar eine Reise vor.
Übrig bleibt am Ende Oskar dem man die Lösung als Einzigem zutraut.
Feiglinge, denkt Oskar, aber es ist ihm letzten Endes dann doch lieber, allein hin zu fahren, als betreten da stehende, Mützen drehende alte Männer
neben sich stehen zu haben. „Du bist auch ein alter Mann“, flüstert ihm eine Stimme zu, aber er argumentiert vor sich selbst, dass er immer noch ansehnlich und stattlich daher kommt.
Er würde das Anliegen seiner Sangesfreunde schon mit der entsprechenden Würde vortragen. Oskar strafft
sich und nimmt die Wahl an.
Prolog
Als Peter die Tür öffnete, saß Karla in ihrem Sessel und schaute in den
blühenden Garten. Sie lächelte ihn an, wie sie es immer getan hatte. Aber das tat sie mit jedem, der in ihre Nähe kam.
Peter strich über ihr Haar und wie immer entzog sie sich dieser
Geste.
Ihre Hände lagen im Schoß. Unruhig bewegten sich Daumen und Zeigefinger
der rechten Hand in einer ständigen Schreibbewegung.
Sie arbeitet wieder an ihrem Buch, dachte Peter. Das tat sie, seitdem sie
sich ins Vergessen zurückgezogen hatte.
Die Erinnerungen an ihr Leben entglitten ihr täglich mehr, aber manchmal
stachen sie in überdeutlicher Helligkeit aus der Dämmerung heraus.
Dann wurden ihre Hände aktiv und sie schrieb auf ein imaginäres Blatt
imaginäre Buchstaben, Wörter und Sätze.
Hin und wieder, in lichten Phasen, ließ sie Peter an ihrer Tätigkeit
teilhaben.
Dann erzählte sie ihm die Geschichte eines Lebens, das nicht das ihre
gewesen zu sein schien.
Zusammengesetzte Splitter einer löchrigen Erinnerung.
Oft unzusammenhängend und wirr.
Peter begann, bei seinen Besuchen zunächst ein Diktiergerät
mitzunehmen.
Manchmal ging er, ohne dass sie auch nur ein Wort von sich gegeben
hatte.
Welches Leben war das in ihrer Erinnerung? Ein besseres, ein
schlechteres?
„Ich denke manchmal, mein Leben war ein Traum, flüchtig und vergänglich. Wenn ich ihn beim Erwachen nicht aufschreibe ist er verschwunden.
Wenn ich Dir von Karlas Leben erzähle, wirst du mir zuhören“, fragte Karla
Peter nickte.
Die letzten Akkorde der Mondscheinsonate standen noch im Raum.
In den Tassen dampfte ein köstlicher weißer Tee und beide naschten von
den kleinen Gebäckstücken, die Peter immer bei seinen Besuchen mitbrachte. Karla schwieg lange, aber dann begann sie zögernd zu sprechen.
Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Mutter, als sie älter wurde, mir
von ihrem Leben erzählt. Aber sie fand es unwichtig, uninteressant, nicht bemerkenswert. Dabei plauderte sie wirklich gern. Doch wenn ich sie um Details bat sagte sie, sie hätte nichts zu
berichten, alles sei vergessen.
Das, was ich weiß, sind zusammen gefegte Bruchteile von Gesprächen und
Erinnerungen, aus denen ich mir mein Bild gefügt habe.
Wieder schwieg sie eine Weile und als sie fortfuhr zu berichten, sprach
sie von sich nicht von sich, sondern von ihr, Karla, einem Mädchen, das sie einmal gekannt hatte.
Karlas Mutter war ein Einzelkind. Die Eltern kamen aus völlig
unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen. Der Vater aus einer Familie von Porzellanmalern. Er hatte sieben Geschwister, von denen das Jüngste noch nicht geboren war, als der Vater
starb.
Die Meisterprüfung als Maler legte er schon mit 23 Jahren ab, ein Zeichen
für Zielstrebigkeit, das ihm in der Stadt, in der er arbeitete, Respekt verschaffte.
Seine Frau lebte dort. Sie entstammte einem „gutbürgerlichen“ Elternhaus.
Der Vater war Stellmachermeister im Zivilberuf und Kirchenmusiker und Chorleiter aus Berufung.
Man schätzte ihn in der kleinen Stadt.
Als er ein zweites Mal heiratete, war er ein Mann im reiferen Alter,
seine Frau fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Mit ihr hatte er noch diese eine Tochter, Karlas Großmutter.
Sie war eine sehr selbstbewusste und dominante Person. Die jungen Männer
ihrer Generation hielten sich von ihr fern. Emanzipation war noch ein Fremdwort. Großvater und sie gründeten eine Familie.
Großmutter hatte Geld, ein
Haus, Grundstücke, Gärten und Felder.
Er war zwar Malermeister, aber im Geist ein Künstler. Die Anlagen dafür
hatten Generationen seiner Vorfahren weitergegeben und auch er trug sie in sich. Nur ausleben konnte er sie nicht. Das Einzige, was ihm blieb, waren die Stunden zwischen Tag und Tau. Da stellte
er seine Staffelei auf und zog sich in seine Welt zurück.
Ein Jahr später kam die Tochter zur Welt.
Obwohl auch sie ein Einzelkind blieb, ließ man ihr viel Raum, sich zu
entfalten.
Als 15-jährige schickte man sie zu Freunden auf eine Nordseeinsel. Da
sollt sie sich den Wind um die Nase wehen lassen. In einem renommierten Hotel mit Konditorei und Pension lernte sie sich in einen streng geregelten Arbeitsablauf einzufügen. Es gab keine
Pensionate mehr, wie zu Zeiten der Großmutter. Also lernte sie hier den gesellschaftlichen Umgang. Im Anschluss daran begann sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester. Alles, was sie gelernt
hatte, konnte sie jetzt gebrauchen. Die Ideologie der Nazizeit steckte ihr im Blut und als der Krieg gegen Polen begann, zog sie mit einem
Lazarettzug ins Feld.
Jetzt musste sie sich der Wirklichkeit stellen und ignorierte sie doch
weitestgehend.
Not, Verzweiflung und sterbende, verkrüppelte junge Männer waren die
Opfer, die der neuen Zeit gebracht werden mussten. Aber das nahm man billigend in Kauf, denn der Sieg war gewiss.
Natürlich lernten sich Karlas Eltern im Krieg kennen. Ihr Vater lag nach
einem Flugzeugabsturz in dem Lazarett, in dem ihre Mutter arbeitete.
Sie war ein junges Mädchen, er ein gestandener Mann, zwölf Jahre älter
als sie. Doch er war ansehnlich in seiner Uniform, mit Portepee und Schützenschnur. Einer, der Parademarsch gehen konnte und schon viel vom Leben gesehen hatte. Einer, der einen Ehrenkodex
vertrat und ein Mädchen nicht anfasste, bevor es offiziell zu ihm gehörte.
Einer, der zu viel wollte und an seiner Zeit und deren Folgen
scheiterte.
Sie nahm ihn mit nach Hause, um ihn den Eltern vorzustellen. Man war
nicht erfreut, denn er war nicht standesgemäß. Ein Mann aus bäuerlichem Milieu passte nicht ins Geschäft. Er hatte zwar einen Beruf erlernt, war dann aber der Reichswehr beigetreten und hatte da
als sogenannter „Zwölfender“ Karriere gemacht.
Karlas Großmutter wollte
keinen Berufssoldaten für ihre Tochter, und was der Großvater wollte, war sowieso nebensächlich. Aber Karlas Mutter war hartnäckig. Sie setzte sich durch.
Im Mai fand die Trauung statt. Kriegstrauung, wie viele damals. Alte
Fotos zeigen das junge Paar unter blühenden Apfelbäumen, eng umschlungen, im Garten. Man fotografierte mit der Box, einem Fotoapparat, der wie Volksempfänger und Volkswagen zum Volksstandard
gehörte. Die Braut nicht in Weiß, der Bräutigam in Extrauniform. Schneidig!
Karlas Mutters Fronteinsatz war damit beendet, der ihres Vaters
nicht.
Nur musste er nach seinem Absturz am Boden bleiben und wurde mit einer
Nachrichteneinheit vor Danzig stationiert.
Karla wurde im darauf folgenden Jahr geboren. In Abwesenheit ihres
Vaters.
Die meisten Kinder damals wurden in Abwesenheit ihrer Väter geboren. Aber
alle waren stolz auf ihren Nachwuchs und trugen die Fotos mit sich an die jeweiligen Fronten.
Was war Familie damals? F ü r die Frauen etwas, wof ü r es sich lohnte zu leben, und f ü r die M ä nner etwas, wof ü r es sich lohnte zu ü berleben. Karlas Mutter ging es gut im Schoße ihrer Familie. Bei Vater und Mutter war
sie mit ihrem Kind bestens behütet. Man sorgte für sie und die Tochter und war glücklich mit dem Enkelkind. Kein anderer Mann stellte Ansprüche. Alles blieb, wie es immer gewesen war.
„Ich bin müde.“ Karla stand auf, ging auf ihr Bett zu und legte sich hin,
die Augen offen, aber nicht in der Gegenwart.
Peter verließ leise das Zimmer. Er würde morgen wiederkommen. Zuhause
hörte er sich noch einmal an, was Karla ihm erzählt hatte und er fragte sich:
Wie war das bei mir? Woran erinnere ich mich?
Meinen Vater kenne ich nicht. Er ist gefallen, noch bevor ich auf der
Welt war. Meine Mutter war kriegsdienstverpflichtet wie viele andere Frauen. Zum Glück hatte ich die Großmutter. Eine gebildete, stolze Frau aus sogenanntem „guten Hause“. Ihr verdanke ich alles.
Meine Erziehung, meine Bildung und die Liebe zu den Künsten. In den Schulen lehrte man zu dieser Zeit nicht mehr. Man beschäftigte die Kinder mit Kinovorführungen und Luftschutzübungen.
Großmutter kochte für mich, und weil ich mäkelig war, hatte sie einen
schweren Stand. Aber nie zwang sie mich, zu essen, was ich nicht mochte.
Ein Kind nimmt sich, was es braucht, sagte sie. Damit hatte sie Recht.
Ich wuchs trotzdem.
An den langen Nachmittagen las sie mir vor, oder wir gingen zusammen ins
Kaffeehaus. Sie mochte die Wiener Musik, die von drei Damen vorgetragen wurde. Kaffee und Kuchen waren Nebensache. Die Atmosphäre war ihr wichtig. Ein Nachhall der guten alten Zeit, die durch den
Krieg zerstört worden war. Jetzt lebte die Welt im Chaos, und an jedem Tag wurde sie tiefer hineingezogen. Meine Großmutter behandelte mich wie ein Aristokratenkind. Immer korrekte Bekleidung,
immer ein Oberhemd mit Fliege und einen dunklen Anzug, den sie mir selbst genäht hatte. Es gab diese Art Bekleidung für Kinder nicht mehr zu kaufen. Für die Hemden bestellte sie eine Frau, die
aus den Hemden meines Vaters kleinere Exemplare herstellte.
Er brauchte sie ja nicht mehr.
Die Kragen wurden mit Fischbeinstäbchen versteift und es war mir nie
wohl, wenn ich sie anziehen musste.
Großmutter war die Mutter meines Vaters, und auch ihn hatte sie im
gleichen Sinne erzogen. Meine Mutter hätte mich lieber als Lausbuben gesehen, mit aufgeschürften Knien und zerrissenen Hosen.
Aber das kam noch.
Doch zunächst hielt Großmutter alle Gefahren von mir fern. Ebenso alle
Kinder, mit denen ich hätte spielen können. Die erschienen ihr alle nicht standesgemäß, waren in ihren Augen grobmotorig und ungebildet.
Ich lernte Klavier spielen. Das war das Einzige, wovon man sie nicht
abbringen konnte. Über alles andere ließ sie mit sich reden.
Am nächsten Tag nahm Peter neben Tee und Gebäck eine CD mit, die Karla
sehr liebte. Das Cellokonzert von Dvorak, gespielt von Jaqueline Dupret. Vielleicht erinnerte sie sich daran und würde sich wieder für ihn erinnern.
Die Musik belebte sie, ihre Augen bekamen den Glanz ihrer guten Jahre
zurück und als Peter es sich in seinem Sessel bequem gemacht hatte, flossen ihr die Worte fast wie von selbst von den Lippen.
Karla fehlte es an nichts. Es gab einen großen Garten in dem sie spielen
konnte und zwei Frauen, die sich um ihr Wohlbefinden kümmerten. Um ihre anderen Bedürfnisse kümmerten sich Großvater.
Er war das Wichtigste in ihrem Leben. Den Vater vermisste sie nicht. Er
war nicht real, existierte nur in den Erzählungen ihrer Mutter als „der Papa“.
Ihr Schatz war der Opa.
Mit ihm war alles leicht und gut. Er erzählte die schönsten Geschichten,
er kraulte ihr den Rücken, er alberte mit ihr, und sie hatten ihre kleinen Geheimnisse.
Oma musste nicht alles wissen.
Wenn sie sonntags zusammen spazieren gingen, war immer der Frühschoppen
das Ende ihres Rundganges. Da gab es gegen Verschwiegenheit einen kleinen Schokoladenbecher mit einem Tropfen Eierlikör am Grund, den ihre Zunge nur erreichen konnte, wenn sie den Becker
verspeiste. Ihre erste Begegnung mit Schokolade und Alkohol.
Im Gegenzug kam Opa zu seinem Bier.
Die Großmutter strafte ihn dafür zuerst mit bösen Worten und dann mit
bissigem Schweigen. Er war sein Leben lang fremd bestimmt. Alle seine Ideen wurden mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt.
Ein neues Haus, das im Garten stehen sollte lehnte sie ab. Es gab ein Haus. Einen kleinen Volkswagen anschaffen? Wer brauchte solchen Luxus? Bilder ausstellen und verkaufen? Marotten und Hirngespinste. Er
sollte sich um sein Geschäft kümmern und dafür sorgen, dass die Kundschaft pünktlich zahlte. Das, war sie nicht ablehnte, waren kleine Gesellschaften, für die sie die Gästelisten schrieb. Oma
spielte Klavier, und einmal, erinnerte sich Karla, hatte sie einen verletzten Finger, mit dem sie nicht anschlagen konnte. So spielte sie immer wieder das gleiche Lied, doch keiner störte sich
daran. Das waren die Stunden, in denen Opa glücklich war.
Karla sang leise vor sich hin.
Zu Hause hatte die Großmutter ihren Mann unter Kontrolle. Da machte er
ihr „keine Schande“. Sie hätte auch nichts dagegen, wenn er zum Skatspielen oder auf ein Bier in die Schenke ginge, meinte sie, aber vorher müsse er seine Arbeitssachen ablegen und sich
ordentlich umziehen. Das wiederum war ihrem Mann nicht angenehm.
Den Arbeitstag mit einem Bier beschließen, mehr wollte er eigentlich
nicht. Dass es später auch ein paar Glas mehr wurden, lag nicht an ihm.
„So kann es gehen, wenn der eine zu stark und der andere zu schwach ist“,
meinte sie.
„Unglücklich zu sein schadet nicht nur der Seele, sondern auch dem
Körper.“
„Kennst du das aus deinem Leben auch“ forschte Peter vorsichtig.
„Nein, ich hatte ein gutes Leben. Bei Karla war das nicht immer
so.“
Aber weitere Fragen gestattete sie an diesem Nachmittag nicht. Peter
hatte Geduld und Zeit.
Ich kannte meinen Großvater ja nicht, aber
von ihm sprach die Großmutter mit besonderer Bewunderung, resummierte
Peter.
Er war in ihren Augen ein Schöngeist, ein Ästhet, und sie meinte, diese
Eigenschaften müsste ich zwangsläufig ererbt haben.
Auch er spielte Klavier, sogar meisterhaft, und seine Interpretationen
der „Preludes von Chopin“ brachte sie zum Schwärmen, wenn sie davon erzählte.
Großvater war sehr jung gestorben und in ihren Erinnerungen immer ein
junger Mann geblieben.
Mein Vater war ihr einziges Kind. Sie war auch nach dem Tod ihres Mannes
noch vermögend. Ihr Sohn bekam alles, was er sich wünschte, auch meine Mutter, und die entsprach, bezogen auf eine standesgemäße Beziehung, nicht den Vorstellungen meiner Großmutter.
Wie sich doch die Dinge gleichen, sinnierte Peter.
Im Verlauf des Krieges bröckelte der Putz von ihrer mühsam
aufrechterhaltenen Fassade, und langsam sah man auch ihr den Mangel an.
Sie hielt sich trotzdem gerade und verzichtete nicht auf Spitzenkragen
und Hut.
Die Preludes von Chopin haben wir sicher in unserem Archiv. Peter
durchsuchte die umfangreiche Sammlung und fand zwei Aufnahmen. Eine mit Martha Argerich und eine mit Rubinstein. Er wählte die Argerich CD und hoffte, es würde Karla gefallen. Aber sie blieb
stumm an diesem Tag. Die Pflegerinnen hatten ihn schon gewarnt, als er kam.
„Besser, sie lassen sie heute schlafen“, war ihr gut gemeinter Rat, aber
Peter wollte an dem begonnenen Ritual festhalten. Vielleicht half es, ihren Tag besser zu strukturieren.
Als er das Zimmer betrat, saß sie am Tisch. Offenbar hatte sie ihn
erwartet.
Den Tee rührte sie nicht an, auch das Gebäck verschmähte sie. Er legte
die CD ein und wartete auf ihre Reaktion.
Die Musik machte sie aggressiv. Sie sprang auf, lief zum Fenster, schlang
die Arme ganz fest um den Körper und schlug mit der Stirn gegen die Scheibe.
Peter stoppte die Aufnahme und zog Karla vorsichtig zurück auf ihren
Platz. Das würde heute nicht gut gehen. Er griff nach seinen Sachen und küsste sie auf die Wange.
„Ich komme morgen wieder. Bis dahin, Karla!“
Auf dem Gang schauten ihm
die Schwestern nach. So etwas wie er war selten.
Ich hätte es wissen müssen, schalt er sich. Sie braucht etwas
Beruhigendes. Morgen nehme ich die Nocturnes mit und das war eine richtige Entscheidung, wie sich zeigte, denn Karla ließ sich in die Musik fallen und schenkte ihm einen weiteren Abschnitt ihrer
Erinnerung.
Das Haus, in dem Karla heranwuchs, hatte Fenster zu ebener Erde. Wenn
Großvater abends heimkam, klopfte er an die Scheiben. Dann war Karla nicht zu halten, sie rannte zur Tür und bestürmte ihn mit der Frage: „Hast du mir was mitgebracht ?“
Er hatte immer etwas in seinen Taschen für sie, obwohl es eigentlich
nichts gab.
Als Karla etwa 1 ½ Jahre alt war, reisten ihre Mutter, die Großmutter und
sie zu ihrem Vater.
Er bewohnte ein kleines Haus an der polnischen Ostseeküste. Karla
erinnerte sich, vielleicht auch nur durch Erzählungen, an ein Haus mit einem Tor, dessen Tür oben aufzuklappen war wie ein Fenster.
Ein Märchenerzählerhaus.
Aber ihr Märchenerzähler war nicht dabei.
Von der herannahenden Front und vom Krieg verstand sie noch nichts.
Alles, was sie darüber an Erinnerungen bewahrt hatte, weiß sie aus den Erzählungen der Mutter.
Anfang 1945 war die Front so nah, dass sie nach Thüringen zurückfahren
mussten.
Karlas Vater hatte eine Passage auf der „Gustloff“ gebucht. Zum Glück
versäumten sie das Auslaufen des Schiffes und er brachte seine Lieben in großer Eile und in letzter Minute an den Bahnhof nach Danzig.
Dort musste er sie ihrem Schicksal überlassen, denn er würde mit seiner
Einheit in die Gefangenschaft gehen.
Da standen sie nun und warteten auf einen Zug, der „Heim ins Reich“
fuhr.
Alle Züge waren überfüllt mit flüchtenden Menschen aus dem Osten.
Ihre Rettung war ein Eisenbahner, ein älterer Mann, den Karla „Opili“
nannte und den sie bat: „Gell Opi, du lässt uns in den Zug?!“ Er verschaffte dem Kind und ihrer Begleitung ein Abteil, in dem sie auf Federbetten, zwischen Schinken und Gänsen, Frauen und Kindern
irgendwann Berlin erreichten.
Zusammen mit Tante Else.
Die hatte Karla im Zug adoptiert wie den Eisenbahner auf dem
Bahnsteig.
Berlin lag in Trümmern und Tante Elses Wohnung auch. Sie fuhr mit nach
Thüringen und blieb da in der Hoffnung, ihre Tochter zu finden, die als Flakhelferin in der Nachbarstadt ihrer Gastgeberinnen Dienst tat.
Sie wusste noch nicht, dass Edith, ihre Tochter, einem der letzten
schweren Bombenangriffe zum Opfer gefallen war. Ein Sohn war schon auf See umgekommen. Von ihrem Mann wusste sie nichts. Ein Schicksal wie viele andere aus dieser Zeit. Großes Leid und wenig Trost.
Karla konnte in ihrer
kindlichen Unschuld ein wenig helfen. Mit Fröhlichkeit und den Ansprüchen, die sie an sie stellte. Spazieren gehen, spielen, singen, vorlesen und kuscheln.
Wie sehr sie litt, blieb dem Kind verborgen.
Tante Else hielt sich fast ein Jahr in Thüringen auf, dann kam ihr Mann
aus der Gefangenschaft und sie kehrten nach Berlin zurück. Dort besuchten sie Karla, ihre Mutter und Großmutter noch oft, solange das möglich war.
Karla erinnerte sich an eine Hochparterrewohnung in Berlin-Moabit, an
deren Fenster sie den Kindern auf der Straße Vorstellungen gab, verkleidet mit Tante Elses Hüten, Schals und Stöckelschuhen, die ihr, damals vielleicht 5 Jahre alt, natürlich viel zu groß waren.
Aber sie sang alle liederlichen Lieder, die ihr Opa sie mit einem Schmunzeln gelehrt hatte, sehr zum Entsetzen der Großmutter, die mit Tante Else aus dem Kino kam und Karla so agieren sah.
Zu Hause herrschten Enge und Mangel. Das Haus war voll mit Flüchtlingen,
die aus dem Osten kommend alles verloren und kein Zuhause mehr hatten. Jedes Zimmer war belegt. Für Karlas Mutter und sie blieb ein kleiner Raum, in dem nicht mehr stand als ein Bett, ein Schrank
und ein kleiner Waschtisch. Da schliefen sie.
Interessant wurde es an den Abenden. Einmal in der Woche traf man sich
zum Romméspielen am großen Tisch in der Wohnküche beim Licht einer Petroleumlampe. Strom gab es abends nicht. Nach mehreren Stunden Spiel hatten alle rußgeschwärzte Nasenlöcher. Das fand Karla
besonders komisch.
Und auch jetzt lächelte sie, als sie sich erinnerte. Peter spürte, dass
er gehen sollte. Sie würde jetzt nicht mehr ansprechbar sein.
Wenn unsere Jugendjahre auch nicht aufs Jahr die gleichen sind, so ist es
doch die Zeit mit ihren typischen Zeichen, die unser Erleben nachvollziehbar macht, dachte Peter, als er an seinem Computer saß und seine Stunden mit Karla rekapitulierte.
Als wir Breslau verlassen mussten, blieb auch unser großes Haus zurück.
Mit allen Schätzen, die sich darin befanden. Meistens nur noch ideelle Erinnerungen. Die wirklich wertvollen Dinge waren im Laufe der Jahre zu Geld gemacht worden.
Meine Mutter hatte einen Rucksack, einen Koffer und mich an der
Hand.
Später hat sie noch oft darüber gelacht, was sie in der Hektik des
Aufbruchs in ihrem Rucksack verstaut hatte. Aber so etwas erzählten viele, die gleiche Erinnerungen haben.
Großmutter trug einen kleinen Koffer und ihren Schmuck, eingenäht im
Rocksaum. Pelze und Stiefel, die im Winter 1944 unbezahlbar waren, wärmten auch im Frühjahr noch.
Der Weg in Richtung Grenze war lang und beschwerlich. Viele, die mit uns
aufgebrochen waren, erreichten das Ziel nicht.
Wir übernachteten in Schulen und in Ställen, auf LKWs mit und ohne Plane,
und waren froh, wenn es einmal am Tag etwas zu essen gab.
Mutter und Großmutter huderten mich wie ihr einziges kostbares Küken,
aber für mich war das eher ein Abenteuer.
Insgesamt waren wir zwei Monate unterwegs. Eine unvorstellbar lange Zeit
voller Sorgen, Ängste und Entbehrungen.
Das Ziel meiner Großmutter war Bremen. Sie hatte da eine Schwester und
hoffte, wir würden dort Unterschlupf finden.
Aber das Schicksal hatte anderes mit uns vor. Wir landeten erst einmal in
Dresden.
Dort kampierten wir wie viele andere Flüchtlingsfamilien auf den
Elbwiesen.
Einem unbestimmten Impuls folgend wollte meine Großmutter am nächsten
Morgen weiterziehen.
Wir entkamen dem Dresdner Inferno um Haaresbreite.
Zu guter Letzt landeten wir auf einem Dorf in Thüringen.
Der Abend war fortgeschritten und Peter spürte die Müdigkeit in allen
Knochen. Morgen würde er ausschlafen und dann einen Bummel durch die Stadt machen. Vielleicht fand er eine Kleinigkeit, mit der er Karla erfreuen könnte.
Plattenläden wie früher gab es kaum noch. Nur die großen,
unübersichtlichen Kauftempel, in denen es vorwiegend Musik der Lärmgeneration zu kaufen gab. Beratung sowieso nicht. Man musste schon gezielt suchen und seine Vorstellungen kennen.
Zuhause gab es eine Platte der Beethovenromanzen von Oistrach. Eine
wunderbare Aufnahme. Aber die konnte er als CD nicht finden. Er fand eine Aufnahme mit Menuhin. Die könnte etwas für Karla sein.
Er irrte sich nicht.
Vorwort
Auf meinem Schreibtisch tummeln sich übermütige Sonnenstrahlen.
Sie haben sich unter einer Wolke hervorgestohlen und blinzeln mir ins Gesicht – vorwitzig und keck –
umspielen alles, was auf ihrem Weg liegt.
Auch die Kugeln, die ich schon seit Jahren in einem großen Glas sammle. Es sind übrig gebliebene
Kindheitsreste, gesammelte Erinnerungen eines erfüllten lebendigen Lebens.
Glasmurmeln, farbenfroh und bunt. Stumpf im Schatten strahlend im Licht.
Blau wie die Kirchenfenster von Chagall, orange wie reife Apfelsinen, gelb wie ein Zitronenfalter,
grün wie unreife Äpfel, rot wie Mohnblumen, weiß wie Wolken und changierend wie Seifenblasen.
Obenauf liegen Muscheln, gesammelt an den unterschiedlichsten Stränden, bizarr geformt und schon
etwas verstaubt, denn ich reise nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch.
An Farben, an Gerüche, an Stimmungen, an Menschen, an Träume und an Landschaften.
Die Seifenblasenkugel
Die Seifenblasenkugel hing am Weihnachtsbaum ganz unten rechts am äußeren Zweig. Nichts war mir
wichtiger, als diese Kugel wiederzusehen, wenn sich die Tür zum Weihnachtszimmer öffnete. Ihr galt mein erster suchender Blick. Hing sie an gewohnter Stelle, konnte es Weihnachten werden.
Während die anderen sangen, liebkosten meine Augen die Kugel. Im Licht der Kerzen zeigte sie ihre
ganze Pracht.
Das Weiß der Kirschblüten, das Rosa der Heckenrosen, das Grün der Birken, das Gelb der
Schlüsselblumen, das Blau des Sommerhimmels und sogar das dunkle Lila der Fliederblüten trug sie in sich. Die Farben eines ganzen Jahres.
Jetzt auch noch das Winterweiß der Schneeflocken, das Grün der Tannennadeln und das warme Gelb der
Kerzenflammen.
Im Spiegel der Kugel trafen die Geschichten der verflossenen Jahreszeiten aufeinander und krochen
heraus, wenn ich nach ihnen rief.
Als alle anderen nur noch mit ihren Geschenken beschäftigt waren, legte ich mich unter die Zweige des
Baumes, dicht vor die kleine Kugel, und ließ sie erzählen. Sie erzählte mir in jedem Jahr neue Geschichten.
Die weiße Geschichte
Der Himmel war klar und blau. Am westlichen Rand bildeten sich zwei kleine Wolken.
Eine sah aus wie ein Delfin, die andere wie eine
Schnecke. Sie schwammen im Blau des
Himmelsmeeres ganz gemächlich nebeneinanderher.
Die Wolkenschnecke streckte ihre Fühler aus nach dem kleinen Delfin.
„Wach doch auf, mir ist so langweilig. Wollen wir nicht ein wenig plaudern?“
„Lass mich, ich bin noch müde, bin gerade erst angekommen.“
„Hattest du eine weite Reise?“
„Es ging so, ich komme von einer Insel, die sehr klein ist, und diese hier ist auch nicht gerade
riesig.“
„Reicht sie dir nicht aus? Schau, meine ist auch nicht größer.“
„Und woher kommst du?“, wollte der kleine Delfin wissen und blinzelte verschlafen mit
seinem runden Auge.
„Ich komme aus einem grünen Land.
Da gibt es viele Wiesen und Wälder und Regen, den braucht man, damit die Wiesen grün bleiben.“
„Da, wo ich herkomme, ist alles blau, so wie hier rund um uns alles blau ist.“
„Es sieht so aus, als ob das nicht so bliebe.“
„Warum?“, fragte der kleine Delfin.
„Weil viele andere Wolken aufziehen. Siehst du das nicht?“
„O ja, wo kommen die auf einmal her?“
„Die schickt der Wolkengärtner.“
„Und wer ist das?“
„Das ist einer, der dafür sorgt, dass die Wolken so aussehen wie wir. Klein und luftig oder dick und
schwer.“
„Wie eine Schnecke und ein Delfin?
„Ja, oder wie eine Giraffe, ein Löwe, ein Baum, ein Hühnergott oder so ähnlich.“
„Was ist ein Hühnergott?“
„Das ist ein Kiesel aus dem Meer mit einem Loch in der Mitte.“
„Das kenne ich. Auf meiner Insel suchen die Leute am Strand meistens nach Muscheln. Aber manchmal
fanden sie solche seltsamen Steine.
Die hängten sie sich an einem Band um den Hals und dachten, jetzt hätten sie immer nur Glück.“
„Und, hatten sie Glück?“
„Ich weiß es nicht, sie blieben ja nicht lange genug.“
„Siehst du noch etwas?“
„Nein. Der Wolkengärtner hat Quellwolken geschickt. Die bauen jetzt weiße Türme.“
„Aber dann sehen wir die Erde nicht mehr“, jammerte die Delfinwolke.
Da streckte die Schnecke ihre Fühler nach ihr aus und zog die kleine Wolke an sich heran.
„Steig auf mein Haus“, sagte sie, „wir bauen einen Turm, dann sind wir Riesen und können über die
großen Wolken wegschauen.“
„Das Glück ist weiß“, jubelten die kleinen Wolken, als sie die Erde wiedersahen.
Die blaue Geschichte
An einem sonnigen Sonntagmorgen läuteten die Glockenblumen klar und blau.
Die Wiesen trugen schimmernden Tau und die Sonne hatte ihre helle Freude an den Spiegeln, die ihr die
Grashalme entgegenhielten.
Wie schön sie waren!
Die Sonne streckte ihre langen Hände aus, um die Wiese zu liebkosen.
Nur in einen Winkel unter der Japanquitte gelangten die Goldfinger nicht.
Dort blieb es schattig und kühl.
Gleich über dem Boden hatte ein kleiner blauer Vogel sein Nest gebaut und teilte es mit seiner
Liebsten.
Ein paar blaue Eier lagen auch schon darin und beide wechselten sich ab, diese warm zu halten.
Ein wenig Sonne hätte auch ihnen gut getan.
„Geh eine Weile hinaus und wärm dich auf“, drängte der blaue Vogel seine Frau. „Ich bleibe so lange
hier.“
Sie flatterte auf und zwitscherte ihm zu: „Ich bring dir etwas Schönes mit!“
Ganz oben auf dem Kirschbaum ließ sie sich nieder, breitete ihre Flügel aus und reckte die Brust in
die Sonne. Das war so herrlich, dass sie darüber fast die Zeit vergaß. Aber er sollte das auch erleben. Deshalb suchte sie schnell noch nach einer kleinen Leckerei und eilte zu ihrem Nest.
„Jetzt bist du dran“, drängte sie ihn, nachdem sie ihr Mitbringsel liebevoll in seinen Schnabel
gelegt hatte. „Im Wipfel des Kirschbaumes sitzt es sich wunderbar. Der Wind wiegt dich und die Sonne wärmt dich. Du musst sie genießen, solange sie scheint. Ich bin ja jetzt wieder da.“
Der kleine blaue Vogel hüpfte aus dem Nest und setzte sich in den Sand unter dem Quittenbusch. Er
fand es hier schöner und viel weicher.
Er könnte ein Sandbad nehmen, das die Federn reinigen würde.
Sonnen könnte er sich danach immer noch.
Über den Gartenweg spazierte eine Katze: eine schöne stolze Exotin mit blauen Augen und einem Blick,
von dem man nicht wusste, ob sie nach innen oder nach außen schaute.
Ihr Fell war gelb wie Saharasand, und auf ihrem Kopf lagen die Schatten der Dünen, dunkelbraun, fast
schwarz.
Sie schaute sich nicht um, aber ihre Ohren waren aufgestellt und die Schwanzspitze zuckte vor
Erregung.
Sie hatte den blauen Vogel gesehen, der so selbstvergessen im Sand badete.
Die Katze blieb stehen. Ihre Aufmerksamkeit galt nur noch ihm. Dann spannte sie ihre Muskeln zum
Sprung, und bevor der Vogel fliehen konnte, hatte sie ihn gefasst.
Triumph lag in ihrem Blick.
Sie war eine große Jägerin, aber
eine ohne Hunger, denn gefrühstückt hatte sie bereits.
Also ließ sie den kleinen blauen Vogel einfach liegen. Sie würde ihn sich später zum Spielen holen.
Jetzt putzte sie das Fell, bis es glänzte, und leckte sich die Zehen.
Der kleine blaue Vogel aber war nicht tot. Er war nur schreckensstarr.
Jetzt blinzelte er vorsichtig mit einem Auge in ihre Richtung.
Die Katze war mit sich selbst beschäftigt.
„Ich muss schnell sein, sonst habe ich verloren“, dachte er.
Alle seine Kräfte sammelte er für diesen wichtigen Augenblick und gerade, als sich die Katze vor
Wohlgefühl zusammenrollte, schoss er mit einem spöttischen Triller in die Luft.
„Das Glück ist blau“, dachte der kleine Vogel und die Katze zog mürrisch weiter.
Die gelbe Geschichte
„Keiner mag mich“, beklagte sich der Löwenzahn.
„Dabei sehe ich so schön aus. Golden wie die Sonne und genauso rund. Ich habe einen guten Charakter,
bin langlebig und zäh, bin treu und genügsam. Ich komme in jedem Jahr wieder und wachse auch auf kargem Grund.
Kaum habe ich die ersten Blätter ins Licht gestreckt, kommen sie und stechen mich aus.
Damit ihr Rasen wie ein Rasen aussieht und nicht wie eine Wiese.
Dabei sind Wiesen viel schöner.
Ich habe viele gesunde Inhaltsstoffe und meine jungen Blätter eignen sich besser für einen Salat als
für den Komposthaufen.
Aber was nützt das alles? Sie mögen mich nicht.“
Sein großer goldener Kopf sank ihm traurig auf den Stängel.
Da setzte sich eine Hummel mitten auf sein Gesicht, um den Nektar zu ernten.
Der Löwenzahn lachte, denn es kitzelte ihn schrecklich.
„Hör auf zu zappeln“, brummte die Hummel. „Ich komme doch sonst nicht an deinen süßen Grund.“
„Lass dich nicht stören, Hummel, ich kann einfach nicht still halten. Dein dicker Pelz krabbelt so
sehr.“
„Du bist ein seltsamer Löwenzahn“, wunderte sich die Hummel. „Kein anderer stellt sich so an wie
du.“
„Ich bin ja auch kein anderer, sondern der, dem man nicht wohlgesinnt ist.“
„Ach“, staunte die Hummel. „Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Man mag mich nicht auf der Wiese, die ein Rasen werden soll.“
„Aber wenn man dich nicht mag, dann mag man mich vielleicht auch nicht. Und wenn du hier nicht mehr blühen darfst, dann bekomme ich keinen Nektar mehr, und ohne Nektar muss ich
verhungern.“
„Was sind wir doch für arme Geschöpfe!“
Der Löwenzahn wurde eine Spur blasser und die Hummel nahm ein kurzes Bad im Selbstmitleid.
So verharrten sie eine Weile.
Ein Mädchen hockte sich ins Gras.
„Schau, Mama, da sitzt eine Hummel auf dem gelben Löwenzahn. Kann ich sie streicheln?“
„Das wird sie sich nicht gefallen lassen, sie wird wegfliegen.“
„Die beiden sehen so hübsch aus. Kannst du ein Foto machen?“
„Ich kann es versuchen, aber die Hummel wird nicht warten, bis ich die Kamera geholt habe.“
„Versuch es bitte, ich warte hier und sage ihr, dass sie sitzen bleiben soll“, bettelte die
Kleine.
Die Mutter ging lächelnd davon.
„Hast du gehört, Hummel, die wollen ein Foto von uns beiden machen. Bleib sitzen und rühr dich
nicht!“ Der Löwenzahn drehte sich ins Licht.
„Ich bleib ja“, brummte die Hummel.
„Wenn von uns beiden schon nichts übrig bleibt, dann bleibt wenigstens ein Foto.“
Mit der Kamera in der Hand kam die Mutter des Mädchens zurück.
„Na, hat die Hummel auf mich gewartet?“
„Ja, sie wollte schon wegfliegen, aber ich habe so sehr gebettelt. Da ist sie geblieben. – Nun mach
schon, Mama, lange wartet sie nicht mehr“, drängte die Kleine.
Die Mutter schoss gleich mehrere Bilder: kleine und große, nahe und entfernte Aufnahmen.
Das Mädchen wollte die Bilder sehen und die Mutter zeigte sie ihr.
Der Löwenzahn machte sich lang.
Er wollte auch etwas sehen. Die Hummel geriet ins Rutschen und brummte auf die Schlüsselblume zu, die
sich schon als Landeplatz darbot.
Die Hummel würde später wiederkommen.
Kurz bevor der Löwenzahn die Blüte schließen wollte, brummte sie noch einmal vorbei.
„Sind wir gut getroffen?“, fragte sie.
Auf dem Gesicht des Löwenzahns lag ein seliges Lächeln.
„Einen so schönen Löwenzahn wie mich gibt es nicht ein zweites Mal auf der Welt.“
„Sei nicht so eitel“, brummte die Hummel, „ich bin doch auch dabei, oder?“
„Natürlich bist du auch dabei. Du und ich auf einem Bild, da kann passieren, was will, wir sind
unsterblich und ich habe es schon immer gewusst.
Das Glück ist gelb.“
„Komischer Kauz“, brummte die Hummel und flog nach Hause.
Die grüne Geschichte
Grün ist meine Lieblingsfarbe. Grün sind die Wälder, grün ist das Gras, grün sind die Blütenstängel
und ihre Blätter, grün sind viele meiner Kleider, Pullover und Strümpfe, grün ist der Salat, den ich gern esse, und grün sind manche Äpfel. Die schmecken zwar nicht gut, sehen aber schön
aus.
Grün ist Eis mit Minze und grün ist manchmal auch der Schnee. Nämlich dann, wenn das Gras schon
wächst und der Winter noch einmal vorbeischaut.
Gleich hinter unserem Dorf liegt eine große Wiese. Ein kleiner Bach hüpft fröhlich über die
Kiesel auf seinem Grund. Die Sonne zupft an den Wassertropfen, damit sie aufblitzen, und am Ufer wächst hohes saftiges Gras zwischen den Erlenbüschen. Es quakt manchmal laut, denn hier wohnt ein
grasgrüner wunderhübscher Laubfrosch zusammen mit anderen seiner Artgenossen.
Manchmal, wenn es Abend wird, stimmen sie ihre Lieder an. Die Melodie ist nicht immer gleich, der
Text aber ändert sich nie. Er beginnt und endet mit „quak“, manchmal auch mit „quaaaak“ oder sogar mit „quuuuak“.
Das kommt immer darauf an, wer den Chor gerade dirigiert. Jeder Dirigent hat seinen sehr
individuellen Stil.
Was den kleinen Laubfrosch stört, ist, dass es kein Orchester gibt, das ihren Gesang
begleitet.
Schon lange denkt er darüber nach, wie schön das klänge.
An einem Sommerabend, gleich nach der Chorprobe, ist er wieder einmal völlig in seine Grübeleien
versunken, da erklingt eine leise Melodie. Wie auf einer Geige, einer Bratsche oder einem Cello gestrichen, hört es sich an.
Der Laubfrosch lauscht lange. Dann legt der Künstler eine Pause ein. „Jetzt kann ich applaudieren“,
denkt der Frosch und platscht seine großen Finger zusammen.
Plötzlich hopst jemand neben ihm ins Schilf.
„Vielen Dank für den freundlichen Applaus“, sagt ein grüner Herr.
Der Frosch ist ein wenig erschrocken über den springenden Musikanten. Aber dann fasst er Mut und
sagt: „Ihr Vortrag war exzellent! Solch eine schöne Musik habe ich lange nicht gehört. Darf ich fragen, wer sie sind?“
„Man nennt mich den Grashüpfer mit der Fiedel.
Ich bin ein wandernder Musikant und spiele dort, wo man meine Musik hören möchte. Ich spiele für
Applaus und nicht für Geld.“
„Eine edle Haltung, Herr Grashüpfer. Würden sie denn auch einmal einen Chor begleiten mit Ihrem
Instrument?“
„Warum nicht? Für eine ganz besondere Vorstellung könnte ich mir das schon vorstellen. Haben sie ein
großes Repertoire? Dann müsste ich noch ein wenig mit ihnen üben.“
„O nein, unser Liedgut besteht aus den unterschiedlichen Quaktönen. Sind die ihnen bekannt?“
„Aber natürlich! Auf meinen Konzertreisen hier am Bachufer habe ich dergleichen schon gehört.“
„Dann, mein Herr, erlaube ich mir, sie morgen zu unserem Sommerkonzert einzuladen. Als Solist und zu
unserer Begleitung.“
„Ich werde da sein“, sagt der Grashüpfer und springt mit einem großen Satz weiter.
Am nächsten Morgen quaken die Frösche um die Wette. Alle Bewohner der Wiese werden zum Konzert am
Abend eingeladen und es kommen viele Zuhörer, die den Grashüpfer mit der Fiedel bewundern wollen.
Es wird ein Erlebnis, von dem die Musikfreunde am Bach noch ihren Enkelkindern erzählen
können.
Der kleine Laubfrosch kann nicht aufhören zu quaken, so sehr hat ihn dieser Abend begeistert. Als er
sich auf seinem Laubbett zum Schlafen niederlegt, denkt er:
„Ich habe es schon immer gewusst.
Das Glück ist grün.“
weiterlesen ? Das Buch ist nicht mehr erhältlich
„Wie lange kennen wir uns eigentlich?“ fragte Jutta ihre Freundinnen, als sie sich an ihrem angestammten
Platz im grünen Zimmer des kleinen Hotels trafen.
Hier saßen sie regelmäßig und diskutierten über „ihr“ Buch des Monats.
Früher waren sie von einer Freundin zur anderen gewechselt und hatten es sich bei einem kleinen Imbiss gemütlich gemacht. Jetzt waren sie alle älter
geworden und zogen die Gastlichkeit des gepflegten Restaurants vor.
Es lag mitten in einem Park, gleich hinter die Stadtmauer gebaut, die an dieser Stelle noch vollständig erhalten war. Zwei Teiche hielten den Blick fest, wenn man bei schönem Wetter auf der Terrasse sitzen konnte. Die großen Bäume spendeten angenehmen Schatten und die Augen
konnten sich an den flanierenden Besuchern erfreuen. Große gelbe Sonnenschirme lockten Neugierige in ihren Schutz.
Abends wurde der Garten von Lichtgirlanden erhellt, und dann konnte man sich suggerieren, man säße auf
einer Insel, weit weg vom Lärm des Lebens.
Jetzt aber war es Nachmittag und das Kuchen Buffett reichlich ausgestattet mit leckeren Angeboten, an denen sich die Damen ergötzten. Dazu ein Kännchen
Kaffee. Später würde ein Glas Wein den Tag abrunden.
Aber jetzt stand Juttas Frage im Raum.
Ja, wie lange kannten sie sich eigentlich schon? „Das müssten doch mindestens“, setzte Edith an.
„Richtig!“ Dorothea fiel ihr ins Wort. „Dreißig Jahre bestimmt.“
„Dreißig Jahre auf den Tag, trumpfte Jutta auf. Ich habe per Zufall einen alten Kalender gefunden, und darin stand, dass unser Lesekreis sich am 15. Mai 1990 zum ersten Mal traf. Deshalb sitzen wir heute auch ganz außer der Reihe hier. Habt ihr euch nicht gewundert,
dass ich euch eingeladen habe?“ Jutta schaute erwartungsvoll in die kleine Runde.
„Eigentlich schon, aber wir dachten, Du hättest Langeweile.“
„So gut müsstet ihr mich doch kennen, Langeweile habe ich nie! Aber wir sollten anstoßen auf eine so lange schöne Zeit, die wir miteinander hatten und
hoffentlich noch haben werden.“
Die Gläser klangen aneinander. „Einen guten Tropfen hast du ausgesucht, Jutta.“
„Ich habe noch einen anderen Gedanken mitgebracht, aber darüber reden wir nach unserem Kaffee.“
Die Neugier raubte den Damen die Ruhe, ihren Kaffee zu genießen. Immer wieder kamen sie auf den „anderen Gedanken“ zurück, und so ließ sich Jutta nicht
mehr lange bitten und breitete ihre Idee vor den Freundinnen aus.
„Wir sind jetzt alle in dem Alter, in dem wir über einen letzten, endgültigen Umzug in eine altersgerechte Bleibe nachdenken“, begann sie, wurde aber
sofort von Edith unterbrochen.
„Das hast du doch überhaupt nicht nötig! Dein schönes Haus bleibt Dir auf Lebenszeit die luxuriöseste nur vorstellbare Bleibe! Ich, das wollte ich euch
heute sowieso sagen, muss damit rechen, in allernächster Zukunft meine Wohnung räumen zu müssen. Meine Vermieterin will das Haus verkaufen!“
„Oh !“ Dorotheas Augen wurden vor Schreck rund. „Aber Jutta hat Recht, ich werde auch nicht bis an mein Lebensende in meiner Wohnung bleiben können. Zu
viele Stufen, zu weit von den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt. Noch kann ich ja zu Fuß gehen, aber wie lange noch?“
„Seht ihr“, begann Jutta noch einmal, „das ist der Grund meiner Überlegungen. Mein Haus ist zu groß, zu leer, zu teuer für mich allein. Sollte ich es
verkaufen, um in einen Hasenstall zu ziehen, den ich in einer Residenz anmieten oder kaufen könnte?
Mein Gisbert würde sich im Grab umdrehen. Das Haus war seine Idee, und er wollte, dass es mir bis an mein Lebensende darin gut geht.“
„Ja, aber was hast du damit vor, Jutta?“ fragten die Freundinnen.
„Ich habe mir gedacht, wir kennen uns nun schon so lange und haben uns immer gut verstanden. Was haltet ihr davon, wenn wir uns das Haus teilen und es
sozusagen als Seniorinnen-WG nutzen? Unter dem Motto: “Siebzig plus – für uns ein Muss?“ Jutta kicherte über ihren Slogan, doch die Freundinnen fanden es scheinbar nicht lustig.
Nur zögernd begann Dorothea: „Hast du dir das auch gut überlegt?“
„Wir sind doch alle ziemlich individuell“, warf Edith ein.
„Na und ? Es ist Platz genug, uns aus dem Weg zu gehen oder uns zu begegnen, wenn wir es wollen. Mein Haus hat nur eine Wohnebene, keiner muss Treppen steigen, es gibt zwei Bäder und zwei Gästetoiletten mit Dusche, das müsste doch möglich sein.
Jede von uns bekommt ein Zimmer zum Schlafen. Das Wohnzimmer bleibt für uns drei der Gemeinschaftsraum. Die Küche benutzen wir auch zusammen und die untere Etage, in der die Waschmaschine und der Trockner stehen hat Platz genug für eure Waschmaschinen, wenn ihr sie mitbringen wollt.
Einen Weinkeller hat mein Gisbert angelegt, aus dem können wir uns bedienen so lange wir leben.
Ich stelle mir das richtig schön vor. Wir sitzen abends zusammen und spielen Rommee oder schauen fern, oder wir gehen zusammen ins Kino oder zum
essen.“
„Immer zusammen?“ fragte Edith. „Ich war nie „immer zusammen“, und was ist, wenn ich Besuch einladen möchte? Ich habe einen großen Freundeskreis, wie
ihr wisst.“
„Richtig! “ Dorothea hatte auch Bedenken. „Wer putzt wann, wer kauft ein, wer kocht?“
„Immer deine profanen Einwände, Dosi! Da komme ich mit so einem tollen Plan an und ihr schaut als hätte
euch jemand die Butter vom Brot genommen.“
„Jutta“, lenkte Dosi ein, „dein Vorschlag hat ja wirklich viel für sich, aber das kann man doch nicht so einfach bei einem Glas Sekt
beschließen.“
„So ist es“, bekräftigte Edith. “Das sollten wir uns in aller Ruhe und jede für sich erst einmal durchdenken. Natürlich ist es reizvoll, nicht allein alt zu werden. Aber was denkt ihr, warum ich nicht geheiratet habe? Ich war mir immer selbst genug.“
„Nun mach aber halb lang!“ Jutta wurde lauter. „Wie oft hast du dich beschwert, dass die Wochenenden so endlos sind, weil wir früher mit unseren
Familien und später mit unseren Männern die Wochenenden verbracht haben.“
„Ist ja auch nicht schön, am Wochenende alleine daheim zu hocken“, beharrte Edith. Trotzdem war ich auch dann frei zu entscheiden, ob ich schmollen will
oder eine andere Alternative habe. Zum Beispiel ins Kino zu gehen oder ins Buchcafe oder einfach nur in den Kurpark.“
„Und jetzt denkst du, das geht nicht mehr, wenn wir zusammen ziehen?“
„Ja, das denke ich schon. Ich hätte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich allein etwas unternehmen will.“
Jutta gab immer noch nicht auf. „Das ist ja alles schön und gut. Ich habe auch Freunde, die außerhalb unseres Lesekreises bei mir auftauchen und denen
ich die Freundschaft nicht zu kündigen gedenke, weil ihr bei mir wohnt. Und dann werde ich nach wie vor ausgehen mit wem und wann ich will. So weit darf doch eine Wohngemeinschaft nicht gehen,
dass man sich einengt. Überlegt es euch in Ruhe, denkt an die finanziellen Vorteile. Ihr würdet mietfrei wohnen, nur die Energiekosten und das Telefon teilen wir durch drei. Das war es, was ich
euch so dringend sagen wollte und jetzt lasst uns über unser Buch reden, das Vorgeplänkel war lang genug.
„Was sagt ihr zu Ajtmatows „Ein Tag länger als ein Leben“?
Der Übergang war krass, aber auch das Buch lag ihnen am Herzen und
schon waren sie mitten in ihrem Element. Die Diskussionen waren kontrovers wie immer, aber letzen Endes machten sie sich zufrieden und heiß geredet auf
den Heimweg.
Früher waren sie ein weites Stück gemeinsam bergauf gegangen. In der letzten Zeit leisteten sie eich ein
Taxi. Einer Bekannten war am helllichten Tag die Handtasche entrissen worden. Auf belebter Straße, das hatte sie bewogen, gemeinsam zurück zu fahren und sich die Kosten zu teilen.
Dosi meinte, ihre Schwiegermutter habe immer gesagt: „Fallen wir über den Hund, fallen wir auch über den Schwanz.“ Was so viel bedeutete wie, dass das
Geld für das Taxi sie nicht wesentlich ärmer machen würde.
Dosi stieg als erste aus, dann Jutta und am Schluss Edith. Jede nahm ihre Gedanken mit in den Abend.
Gleich morgens, wenn sie an seine Tür geklopft hatte wusste sie, wie der Tag werden würde.
Schaute er freundlich, dann wurde der Tag gut. Klang das Guten Morgen dagegen schroff, dann legte sich ein Band um ihren Magen, das sich den ganzen Tag nicht lösen
würde.
Sie hatte etwas falsch gemacht.
Meistens wusste sie nicht was, und dann grübelte sie, während sie das Frühstück richtete und konnte doch keine Verfehlung erkennen.
Das Frühstück bestand aus Schweigen. Sättigend und lang anhaltend.
Er studierte die Aufschriften auf den Gläsern von Marmelade, Honig oder Wurst, um dann den Tisch wegzuschieben, die Hände zu waschen und die Küche zu
verlassen.
Sie tat, was sie an jedem anderen Tag auch tat. Sie räumte auf.
Dann schnallte sie sich ihr Schneckenhaus auf den Rücken und zog sich zurück.
Hier war es still und friedlich.
Hier störte niemand ihre Gedanken, hier war sie für eine Weile ohne Pflicht.
Hier machte sie Pläne ganz für sich allein.
Sie stellte sich vor, wie sie ihn verließ, ganz ohne Skrupel, ohne schlechtes Gewissen und ohne Bindung an das Verspechen, das sie der Mutter in deren letzter
Lebensstunde gegeben hatte.
Sie würde für den Bruder sorgen, ganz gleich, was passiert.
Was würde sie mitnehmen bei ihrem Auszug? Ihr lag nichts an den Dingen. Notwendigerweise das Bett, die Bücher, den Laptop, den Schreibtisch und einen Schrank für
Kleider und Wäsche, ihr Radio und ihre CDs.
Sie würde sich eine ganz kleine Wohnung suchen und dann nur atmen.
Atmen ohne das Luftanhalten vor Angst, dass er sie wieder einmal mit tagelang anhaltendem Schweigen strafen würde für
etwas, dessen sie sich nicht bewusst war. Und dann? Dann würde sie die vielen Leben leben, von denen sie träumte, seit sie denken konnte.
Als sie sich an einem der langen hellen Sommerabende in dem Gesang der französischen Sängerin Patricia Petibon verlor, fand sie sich plötzlich in deren Rolle wieder
und sang den Mozart, wie sie ihn nie zuvor gehört hatte. Talent war ihr in die Wiege gelegt worden, aber was nützte es? Sie war ein Mädchen und das bestimmte alles.
Sie konnte singen, sie wollte tanzen lernen, sie hatte Fantasie und schüttelte Reime aus dem Handgelenk.
Sie lernte Texte in Windeseile und hatte keine Scheu, sie vorzutragen.
Die Lehrer redeten auf die Eltern ein, dem Mädchen eine Chance zu geben, eines ihrer Talente auszubauen, aber für die Tochter kamen solche Allüren nicht in
Betracht, man sparte das Geld lieber für die Ausbildung des Sohnes. Da war es besser angelegt und Geld überhaupt, was spielte Geld schon für eine Rolle? Es war genügend davon vorhanden. Der Sohn
studierte zunächst Medizin, der Mutter zuliebe, aber eigentlich war das nichts für ihn. Er konnte kein Blut sehen. Kurz vor dem Examen wechselte er zu Jura. Fleißig war er und intelligent, aber
es war etwas Seltsames an ihm. Je näher die Examen rückten, umso unausstehlicher wurde er.
Letzten Endes flüchtete er sich in eine Krankheit, die keine war, und das Examen fand nicht statt.
Eine psychische Störung schloss man aus, dabei war es nahe liegend, dass Angst hinter der Verweigerung steckte. Angst, zu versagen.
So wurde der Bruder mit dreißig Jahren Privatier und lebte vom angesammelten Geld des Vaters und dem Erbteil der Mutter.
Die Tochter übernahm die Pflicht. Aber auch sie hatte eine bescheidene finanzielle Sicherheit, die ihr ein sorgloses Dasein ermöglichte.
Das war zunächst genug für ihr eigenes Leben.
Allerdings nicht auf lange Sicht.
Der Tod der Mutter änderte ihr Leben grundsätzlich.
Die Tochter löste ihre Wohnung auf und zog zu ihrem Bruder, um sich, wie vorher die Mutter, ganz seinen Bedürfnissen zu widmen.
Sie übte das Unsichtbar sein, das sich in Luft auflösen, das Funktionieren, das Rücksicht nehmen und das Verschwinden hinter ihrer Maske.
Sie kochte, putzte, wusch, kaufte ein und blieb so weit wie möglich am Rande seines Bewusstseins. Aber sie war nicht die Mutter, die mit Hingabe dem Sohn diente,
sie war ein eigenständiger Mensch, der sich nicht in jeder Minute ihres Tages den Bedürfnissen des Bruders unterwerfen wollte. Gelegentlich widersprach sie ihm und das hatte seinen Zorn zur Folge
und sein strafendes Schweigen.
Heute nun war wieder so ein stummer Tag. Aber es machte ihr nicht mehr so viel aus. In Gedanken packte sie wieder
einmal ihre Siebensachen zusammen und begab sich auf den Weg in das Leben ihrer Fantasie.
Sie war sich sicher, dass sie schon einmal gelebt hatte. Als eine andere Frau zu einer anderen Zeit in einer anderen Welt.
Manchmal sah sie sich auf einer Burg in die Gewänder der Zeit gekleidet, in der Kemenate sitzen, die Hände im Schoß. Ihre Augen lagen auf dem Land ringsum. Sie
schaute auf Hügel und Täler, auf Häuschen, die sich an den Burgberg drückten, Schutz suchend unter seinen Felsen, auf Gassen, die so eng waren, dass
man sie von oben fast nicht sah.
Sie sah die Bauern bei ihrer Arbeit auf den winzigen Feldstreifen, die sich wie Flickenteppiche ineinander woben.
Rauch stieg aus den Kaminen auf und erinnerte sie, dass sie hungrig war.
Sie würde nach der Zofe klingeln und sich beschweren, dass die Mahlzeit noch nicht auf dem Tisch stand. Sie hatte sich schließlich nur ein kleines Mahl gewünscht,
ohne großen Aufwand, und das erwartete sie pünktlich.
Harte Worte lagen ihr nicht, deshalb blieb sie freundlich, aber bestimmt.
Das Mädchen eilte davon, um nach ihrem Mittagsmahl zu schauen.
Der Tisch wurde mit weißem Leinen gedeckt, das mit feinen Mustern bestickt war. Man hatte edles Geschirr aufgelegt. Ein schön geschliffener Kelch stand dabei für
den süffigen Roten, der das Mahl abrunden sollte.
So liebte sie es.
Als sie sich an die lange Tafel setzte, ließ sie noch die Kerzen in den silbernen Kandelabern entzünden und dann schickte sie alle hinaus, die sie bei diesem
Zeremoniell stören könnten.
Sie liebte es, zu essen, und spürte mit jedem Bissen den Aromen nach, die der Koch mit großer Kunst zu verwenden verstand. Mit ihm hatte sie einen Glücksgriff
getan. Er kochte so gern wie sie aß.
Auch der Wein war gut gewählt. Jeder Schluck unterstrich die Köstlichkeit seiner Speisen.
Heute würde sie sich bei ihm persönlich bedanken.
Es wurde Zeit, ihn kennen zu lernen.
Sie bat die Zofe, den Koch zu rufen.
Als er erschien, war er in strahlendes Weiß gekleidet, die Haube gestärkt hoch auf dem Kopf aufragend.
Er verneigte sich tief vor ihr, seiner Gebieterin, und wartete auf ihre Anweisungen.
Sie forderte ihn auf, näher zu treten. Als sie ihm ins Gesicht schaute, erkannte sie ihren Bruder.
Sie lobte ihn für seine Kochkunst und gab mit keinem Wimpernschlag preis, dass sie ihn erkannt hatte.
Dann durfte er sich entfernen.
Sie empfand tiefe Genugtuung dabei, dass er für sie arbeiten musste, während sie sich auf ihren Platz am Fenster zurückziehen konnte, um sich ihrer Lektüre zu widmen.
Sie fragte sich nicht, wie der Bruder an diesen Ort gekommen war, warum er, der doch immer die besseren Chancen im Leben gehabt hatte, sich jetzt in einer dienenden
Position wiederfand, warum er sie nicht erkannt hatte oder erkennen wollte, sie fragte nichts, sie genoss ihre innerliche Genugtuung.
Ein Blick auf die Uhr holte sie zurück aus ihrem Tagtraum.
Es wurde Zeit, das Mittagessen vorzubereiten und zurück in der Realität war sie die Dienende.
Sie kochte kleine Portionen, weil sie nicht mehrmals das Gleiche essen mochte. Pünktlich, wie es von ihr erwartet wurde, klopfte sie an die Tür des Bruders und rief
ihn an den Tisch.
Hatte sie an alles gedacht? Ein Glas mit Wasser, seine Medikamente, die Maggiflasche, die sie hasste, die aber nicht zu umgehen war. Er schüttete Maggi in jedes
Essen, es sei denn, es gab Omeletts oder Reibekuchen.
Serviette, Besteck, vorgewärmte Teller, Blumen auf dem Tisch. Alles war perfekt.
Gespeist wurde wieder in völliger Stille. Das Radio lieferte ihr die Unterhaltung, die sie von ihrem Bruder nicht erwarten konnte.
Die Küche in Ordnung bringen, Müll entsorgen, dann hatte er seine Mittagsruhe. Das Telefon bekam ebenso Sprechverbot wie sie. Seine Tür schloss ihn und sein
Schweigen ein.
Auch sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Buch und Radio, sogar MP3 Player und PC gehörten zu ihren Gefährten. Früher hatte sie Tagebuch geschrieben, das war schon
lange passé. Heute ließ sie ihre Gedanken in einen Ordner fließen, den sie mit Passwort gesichert hatte.
Natürlich besaß ihr Bruder auch einen Rechner und dessen technische Ausstattung war sehr hochwertig und teuer. Er kannte die Gebrauchsanleitungen auswendig, wusste
theoretisch bis ins Detail Bescheid, aber einen Doppelklick bekam er nicht hin. Dafür war er zu bedacht und überlegt, in ihrem Verständnis einfach verlangsamt.
(Textaususzug)
(Dieses Buch wurde unter Pseudonym geschrieben. Heute stehe ich dazu und kann noch immer mit meiner damaligen Sicht auf das Geschehen leben) AW.
Zwei Personen in der Bildmitte. Am rechten Bildrand eine Lampe, in
deren Fuß sich zwei Schubladen befinden. Die obere Lade ein wenig aufgezogen.
In ihr liegt rot, frisch blutend ein Herz, aus dem es auf den Boden tropft. Links eine Truhe mit geöffnetem Deckel, aus der ein Fisch aufsteigt.
Die weibliche Person kniet auf einem Mund. Die männliche hat den Körper eines Cello, den Steg auf die Schulter gelegt und dessen unteres Ende in der Brust der Frau
versenkt. Rundum Münder, alle geschlossen und sehr rot. Eine Szenerie, die im Geheimen stattfindet, unter einem Tuch verborgen.
Unter dem Mantel des Schweigens?
So sehr auch Bildner auf ihn pochen
So herrlich kam er nie zur Schau.
Vom schönsten Mann hast du gesprochen,
Nun sprich auch von der schönsten Frau!
Was! Frauenschönheit will nichts heißen,
Ist gar zu oft ein starres Bild;
Nur solch ein Wesen kann sich preisen,
Das froh und lebenslustig quillt.
Die Schöne bleibt sich selber selig;
Die Anmut macht unwiderstehlich,
Wie Helena, da ich sie trug.
Diesen Text fand ich in Faust, der Tragödie 2. Teil.
Als Zitat hatte Hagen notiert: Die Schöne bleibt sich selber selig.
Wollte er Frauenschönheit zerstören? War er Eifersucht getrieben?
Er liebte seine Frau sehr. Eifersucht ist nicht undenkbar und irgendwie liegt das Gen auch in ihm, väterlicherseits weitergegeben.
Und trotzdem kann ich das alles nicht zusammenfügen.
In welchem Symbol hat er den Schlüssel verborgen, der mir sein Tun erklärt?
Immer wieder suche ich nach meiner Schuld und kann sie nicht finden.
(Textauszug)
Alle meine Bücher sind im Buchhandel erhältlich oder über amazon, Weltbild, Bücher.de und viele andere Internetversandhändler.